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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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dem Finger. »Dann bezeichnet das Auge des Paradiesvogels die Stelle, wo man suchen muß. Natürlich nicht auf dem gemalten, sondern auf dem wirklichen Berg. Dort wird es eine Höhle oder etwas Ähnliches geben. Kommissar, habe ich recht oder irre ich mich?«
    Alle wandten sich Coche zu. Der blies seine Hängebacken auf, zog die buschigen Augenbrauen zusammen und sah nun wirklich wie eine mürrische alte Bulldogge aus.
    »Ich weiß nicht, wie Sie das fertigbringen«, knurrte er. »Ich habe diesen Text schon dort im Karzer gelesen und ihn keine Sekunde aus der Hand gegeben … Na schön, hören Sie.«
     
    Im Palast meines Vaters sind vier Säle, in denen früher die offiziellen Veranstaltungen stattfanden: im nördlichen Saal die des Winters, im südlichen die des Sommers, im östlichen die des Frühlings und im westlichen die des Herbstes. Sie werden sich erinnern, daß der verstorbene Sweetchild davon erzählte. An
den Wänden sind tatsächlich Fresken, welche die Gebirgslandschaft darstellen, auf die man durch die hohen, vom Fußboden bis zur Decke reichenden Fenster blickt. Es sind viele Jahre vergangen, aber ich brauche nur die Augen zu schließen, um diese Landschaft vor mir zu haben. Ich habe viele Reisen gemacht und vieles gesehen, aber einen schöneren Anblick gibt es auf der ganzen Welt nicht! Mein Vater hat die Schatulle unter einem braunen Felsblock auf einem der Berge versteckt. Welcher der vielen Berge das ist, findet man heraus, indem man das Tuch nacheinander an die Berge auf den Fresken hält. Der Berg, dessen Silhouette sich mit der auf dem Tuch deckt, bewahrt den Schatz. Die Stelle, wo man den Felsblock zu suchen hat, wird durch das leere Vogelauge markiert. Natürlich wird selbst ein Mensch, der weiß, in welchem Sektor er suchen muß, viele Stunden oder gar Tage brauchen, um den Stein zu finden, denn die Suchzone umfaßt Hunderte Meter. Aber ein Irrtum ist ausgeschlossen. In den Bergen gibt es viele braune Felsblöcke, aber auf dem betreffenden Berghang nur einen. ›Das Staubkorn im Auge ist ein brauner Stein, einer unter lauter grauen‹, lautet eine Eintragung im Koran. Viele Male habe ich mir vorgestellt, wie ich auf dem heiligen Berg mein Zelt aufschlage und ohne Hast, mit stockendem Herzschlag den Hang absuche, um dieses ›Staubkorn‹ zu finden. Aber das Schicksal hat es anders gewollt.
    Nun denn, den Smaragden, Saphiren, Rubinen und Diamanten scheint es beschieden, dort so lange zu liegen, bis ein Erdbeben den Felsblock hinunterwirft. Doch selbst wenn das erst in hunderttausend Jahren geschieht, werden die Edelsteine keinen Schaden nehmen – sie sind ewig.
    Ich aber bin am Ende. Das verfluchte Tuch hat meine Kräfte aufgezehrt. Das Leben hat seinen Sinn verloren. Ich bin erledigt, ich habe den Verstand verloren.
     
    »Damit hat er recht«, sagte der Kommissar abschließend und legte das halbe Blatt weg. »Damit endet der Brief.«
    »Nun, Legnier-san hat lichtig gehandelt«, sagte der Japaner. »El hat unwüldig gelebt, ist abel wüldig gestolben. Dafül wild ihm vieles velgeben, und im nächsten Leben bekommt el eine neue Chance, seine Velblechen wiedel gutzumachen.«
    »Ich weiß nicht, wie das mit dem nächsten Leben ist.« Bulldogge legte die Blätter sorgfältig zusammen und verwahrte sie in der schwarzen Mappe. »Meine Untersuchung ist gottlob beendet. In Kalkutta ruhe ich mich ein wenig aus, dann geht es zurück nach Paris. Der Fall ist abgeschlossen.«
    Da bereitete der russische Diplomat Renate Kleber eine Überraschung.
    »A-abgeschlossen?« fragte er laut. »Sie haben es wieder zu eilig, Kommissar.« Er wandte sich Renate zu und richtete die stählernen Mündungen seiner kalten blauen Augen auf sie. »Will Madame Kleber uns denn nichts erzählen?«

CLARISSA STOMP
     
     
    Diese Frage kam für alle unerwartet. Doch nein, nicht für alle – Clarissa sah verwundert, daß die werdende Mutter nicht im geringsten die Fassung verlor. Zwar wurde sie eine Spur blasser und biß sich kurz auf die volle Unterlippe, aber sie antwortete prompt und selbstsicher: »Sie haben recht, Monsieur, ich habe etwas zu erzählen. Aber nicht Ihnen, sondern dem Vertreter des Gesetzes.«
    Sie warf dem Kommissar einen hilflosen Blick zu und sagte flehend: »Um Gottes willen, mein Herr, ich möchte mein Geständnis unter vier Augen machen.«
    Die Ereignisse schienen für Coche eine gänzlich unerwartete Wendung zu nehmen. Er blinzelte verwirrt, sah Fandorin argwöhnisch an, schob gewichtig das Doppelkinn

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