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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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»Unterbrechen Sie mich nicht. Wenn ich den Faden verliere, wird es noch fataler … Ich weiß, ich bin viel älter als Sie. Wie alt sind Sie? Fünfundzwanzig? Noch jünger? Macht nichts. Ich will Sie ja nicht ersuchen, mich zu heiraten. Aber Sie gefallen mir. Ich bin in Sie verliebt. Meine ganze Erziehung war darauf gerichtet, niemals und unter gar keinen Umständen so etwas zu einem Mann zu sagen, aber das ist mir jetzt gleich. Ich möchte keine Zeit mehr verlieren. Ich habe ohnehin schon die besten Jahre meines Lebens vertan. Ich verwelke, ohne erblüht zu sein. Wenn ich Ihnen auch nur ein bißchen gefalle, sagen Sie es mir. Wenn nicht, sagen Sie es auch. Nach der Schmach, die ich habe durchmachen müssen, kann es nicht mehr viel schlimmer werden. Und Sie sollen wissen: Mein Pariser … Abenteuer war ein Alptraum, aber es tut mir nicht leid. Lieber ein Alptraum als die schläfrige Benommenheit, in der ich mein bisheriges Leben verbracht habe. Und nun antworten Sie mir, schweigen Sie nicht!«
    Du lieber Gott, hatte sie das wirklich laut sagen können? Darauf konnte sie wohl stolz sein.
    Fandorin war im ersten Moment perplex, klapperte sogar ganz unromantisch mit den langen Wimpern. Dann sagte er – langsam und mehr als sonst stotternd: »Miss Stomp … C-clarissa … Sie gefallen mir. Sehr sogar. Ich bin von Ihnen h-hingerissen. Und ich b-beneide Sie.«
    »Sie beneiden mich? Um was?« fragte sie verdutzt.
    »Um Ihren Mut. Darum, daß Sie keine A-angst haben, eine Absage zu bekommen und sich lächerlich zu machen. W-wissen Sie, ich bin eigentlich ein sehr schüchterner Mensch mit wenig Selbstvertrauen.«
    »Sie?« Clarissa staunte noch mehr.
    »Ja. Ich habe F-furcht vor zwei Dingen: in eine lächerliche oder peinliche S-situation zu geraten und … meine Verteidigung zu schwächen.«
    Nein, sie verstand ihn überhaupt nicht.
    »Welche Verteidigung?«
    »Schauen Sie, ich habe früh erfahren müssen, was ein V-verlust ist, es war eine tiefe Erschütterung – sicherlich fürs ganze Leben. Solange ich allein bin, ist meine V-verteidigung gegen das Schicksal stark, und ich fürchte nichts und niemanden. Für einen Menschen meiner Art ist es am besten, allein zu sein.«
    »Mr. Fandorin, ich sagte Ihnen schon, daß ich keineswegs einen Platz in Ihrem Leben beanspruche«, antwortete Clarissa streng, »nicht einmal einen Platz in Ihrem Herzen. Und schon gar nicht plane ich einen Anschlag auf Ihre ›Verteidigung‹.«
    Sie verstummte, denn es war alles gesagt.
    Doch ausgerechnet in diesem Moment wurde gegen die Tür gehämmert. Im Korridor schallte die aufgeregte Stimme von Milford-Stokes: »Mr. Fandorin, Sir! Schlafen Sie? Machen Sie auf! Schnell! Eine Verschwörung!«
    »Bleiben Sie hier«, flüsterte Fandorin. »Ich bin gleich wieder da.«
    Er ging in den Korridor. Clarissa hörte gedämpfte Stimmen, konnte aber nichts verstehen.
    Nach fünf Minuten war Fandorin wieder da. Er entnahm der Schreibtischschublade einen kleinen, aber schweren Gegenstand und steckte ihn in die Tasche, dann ergriff er noch seinen eleganten Rohrstock und sagte besorgt: »Bleiben Sie noch ein Weilchen hier und gehen Sie dann in Ihre Kabine. Der Fall scheint sich dem Finale zu nähern.«
    Was für ein Finale mochte er meinen? Später, schon in ihrer Kabine, hörte Clarissa Schritte durch den Korridor poltern und Stimmen aufgeregt reden, aber sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß über den Masten der stolzen »Leviathan« der Tod schwebte.
     
    »Was will Madame Kleber denn gestehen?« fragte Doktor Truffo vervös. »Monsieur Fandorin, erklären Sie uns, was vorgeht. Was hat sie damit zu tun?«
    Aber Fandorin schwieg und guckte noch griesgrämiger.
    Die »Leviathan«, unter den regelmäßigen Stößen der seitlich anrollenden Wellen schlingernd, zerschnitt mit Volldampf das nach dem Sturm trübe Wasser der Palkstraße. In der Ferne war, ein grüner Streifen, die Küste von Ceylon zu erkennen. Es war ein diesiger, doch schwüler Morgen. Durch die offenen Fenster der Windseite drang von Zeit zu Zeit ein faulig heißer Luftstrom in den Salon, fand aber keinen Ausweg und sank kraftlos in sich zusammen, wobei er die Stores ein wenig bewegte.
    »Ich glaube, ich habe einen F-fehler gemacht«, murmelte Fandorin. »Die ganze Zeit bin ich einen Schritt, einen halben Schritt zurück hinter …«
    Als der erste Schuß krachte, begriff Clarissa nicht, was das war. Es konnte ja vieles krachen auf einem Schiff, das durch eine unruhige See lief. Aber da

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