Mord auf Widerruf
unternehmen. Die Originale waren ans Labor gegangen und die Kopien an Dr. Pottle von der psychiatrischen Abteilung des Zentralkrankenhauses.
Der Leiter der Gerichtsmedizin hieß Gentry. Er war ein Männlein mit einem Pergamentgesicht, das aussah, als habe man es vor nicht allzu langer Zeit im Tal der Könige ausgegraben, und so wurde er mit polizeilicher Subtilität Doktor Tod genannt. Aber seine Grabkammer hielt er in Schuß, und obwohl der Bericht nur kurz war, hatte Pascoe keinen Zweifel, daß er alles abdeckte.
Geschrieben waren die Briefe auf einer Reiseschreibmaschine vom Typ »Tippa«, die von Adler in Holland hergestellt wurde. Der Großbuchstabe P stand nicht mit dem Rest der Buchstaben auf einer Linie. Der Verfasser konnte wahrscheinlich Schreibmaschine schreiben, mit Sicherheit bediente er sich nicht nur zweier Finger. Das Papier war A5, hellblau, eine Marke, die in jedem Schreibwarenladen zu haben war. Sämtliche Fingerabdrücke waren abgewischt worden. Die Briefmarken waren mit Wasser und nicht mit Speichel befeuchtet worden, und die Umschläge waren selbstklebend. Alle Briefe waren in der Stadt aufgegeben worden, aber zu verschiedenen Tageszeiten.
Der nächste Halt galt dem Zentralkrankenhaus. Pascoe klopfte an eine Tür mit der Aufschrift »Dr. Pottle«, und eine Stimme ertönte: »Herein!« Es klang nach einem jähzornigen Hundebesitzer, der seinen ungehorsamen Hund anschreit.
Pascoe trat ein. Ein kleiner Mann mit einem Schnauzer à la Einstein, dessen Kopf von Tabakqualm umkränzt war, sah ihm, hinter einem unordentlichen Schreibtisch sitzend, entgegen.
»Ach, Sie sind’s«, sagte er wenig entgegenkommend. »Sind Sie immer so prompt?«
»Das hängt davon ab, was es über mich aussagt«, erwiderte Pascoe, der sich an Pottles kleine Eigenheiten gewöhnt hatte, während er zugleich gelernt hatte, Respekt vor den Ergebnissen des Psychiaters zu haben, wenn er als Polizeigutachter tätig war.
Pottle zog an seiner Zigarette und sagte qualmend: »Es sagt mir, daß Sie nichts Besseres zu tun haben, sonst hätten Sie keine Hemmungen, mich warten zu lassen. Sehen wir mal. Ihre Briefe sind irgendwo hier, wenn sie nicht gestohlen worden sind. In diesem Zimmer gehen einige sehr merkwürdige Leute aus und ein. Ich spreche nicht von Patienten. Nein. Hier sind sie.«
Er grub die Fotokopien aus, die Pascoe ihm zur Verfügung gestellt hatte, schüttelte die Asche von ihnen und musterte sie, als würde er zum ersten Mal einen Blick darauf werfen. Pascoe ließ sich nicht täuschen. Pottle vermittelte das Gefühl von Unordnung, ein Gefühl, daß alles um ihn herum im Fluß war, so daß man ohne Risiko alles, was man wollte, in den Malstrom werfen konnte. »Ein Psychiater muß entweder der liebe Gott oder der Teufel, Herr der Heerscharen oder König des Chaos sein. Da Gott keine vierzig Glimmstengel am Tag raucht, ist meine Auswahl gewaltig eingeschränkt«, hatte er einmal im Vertrauen zu Pascoe gesagt. Aber selbst seine Vertraulichkeiten waren nichts weiter als Köder, was Pascoe fünfzehn Minuten später merkte, als er sich dabei ertappte, wie er über seine ambivalente Haltung zur Polizei sprach.
»Es gibt hier ein Problem«, sagte Pottle nach einer Weile. »Was wollen Sie – gründliche Überlegungen oder schnelle Schlußfolgerungen? Oder brauche ich das gar nicht erst zu fragen?«
»Ich freue mich auf Ihre gründlichen Überlegungen in Ihrem schriftlichen Gutachten«, sagte Pascoe. »Aber für die laufende Arbeit …«
»In Ordnung.« Pottle zündete sich an der Zigarette, die er gerade rauchte, eine neue an und zerdrückte den Stummel in einem riesigen, überquellenden Aschenbecher. Sein zerzauster Schnauzer war nikotingelb. Pascoe hoffte, daß er nicht zu häufig Suppe trank.
»Geschlecht«, begann er. »Sechs zu vier, daß es eine Frau ist, deshalb sage ich
sie,
aber ohne Vorurteil. Wie im Fall von Shakespeares Dark Lady könnte sich herausstellen, daß auch unsere Lady ein Kerl ist, aber ich bezweifle es. Auch das Alter ist unbestimmt. Obere Grenze um die fünfzig, untere Grenze um die fünfzehn Jahre. Einverstanden soweit, Mr. Pascoe?«
»Äh, ja, danke«, sagte dieser.
»Warum sagen Sie
ja, danke,
wenn Sie nach
ja, aber
aussehen? Ich wette, Sie haben die Frau sofort als eine Frau mittleren Alters eingestuft, stimmt’s?«
Verlegen grinsend nickte Pascoe.
»Die Leute nach Stereotypen einzuteilen hilft vielleicht, kleine Kriminelle einzufangen«, sagte Pottle, »aber hier hilft es uns
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