Mord hat keine Tränen: Ein Fall für Jessica Campbell (German Edition)
wohnte ebenfalls allein, genau wie sie. Außerdem ... ein wahrer Freund zeigt sich erst in der Not, wie das alte Sprichwort sagte.
Jess rief die Mobilfunknummer des Pathologen an. »Ich hab Ihre Nachricht bekommen«, sagte sie. »Und ja, ich hätte Lust. Allerdings würde ich heute Abend italienisch vorziehen. Wo?«
»Treffen wir uns am üblichen Ort, im Promenade, in einer Stunde?«
Eine Stunde später hatte Jess geduscht und sich umgezogen. Sie fühlte sich wiederbelebt, als sie Tom Palmer gegenüber an einem Tisch draußen vor dem Lokal saß und die Speisekarte studierte. Es war nicht ganz so warm, wie es für ein Essen draußen hätte sein können, doch es war trotzdem ein angenehmer Abend. Fußgänger schlenderten vorbei, und die kleinen Tische unter den Bäumen sahen so verlockend aus, dass sie beschlossen hatten, dort Platz zu nehmen. Tom kratzte sich den wirren schwarzen Haarschopf, während er grübelte, was er denn nun zu essen bestellen sollte. Er neigte zu Pasta. Jess, die zu Hause ohnehin fast nur Nudeln aß (eines der wenigen Gerichte, die sie selbst zubereiten konnte und die außerdem schnell gingen), neigte zu pollo alla griglia.
Die meisten Menschen hätten bei ihrem Anblick geglaubt, in Jess und Tom ein Paar vor sich zu sehen. Doch dem war nicht so. Sie waren, wie Tom es einmal treffend genannt hatte, Leidenskameraden. Die brutale Tatsache lautete, dass Jess' Beruf (und darin hatte ihre Mutter vollkommen recht, zum Leidwesen der Tochter) eine Menge Leute nervös machte. Das Gleiche galt für Tom. Beide hatten festgestellt, dass geselliger Umgang und Unterhaltungen ernsthaft darunter litten.
»In meinem Fall kann ich es sogar verstehen«, hatte Tom ihr anvertraut. »›Womit verdienst du deine Brötchen?‹, fragen sie mich ahnungslos, und wenn ich ihnen erzähle, dass ich Leichen zerstückele, schieben sie sich unauffällig von mir weg und greifen nach dem Knoblauch.«
»In meinem Fall scheinen alle zu denken, ich hätte nichts anderes im Sinn, als ihren tiefsten Geheimnissen auf die Schliche zu kommen«, hatte Jess erklärt. »Ich habe den Eindruck, die halbe Bevölkerung verstößt mehr oder weniger regelmäßig gegen irgendwelche Vorschriften und Gesetze.«
Das Resultat war eine kollegiale Freundschaft gewesen, die extrem gut funktionierte. Auch wenn Jess fest entschlossen war, ihrer Mutter niemals etwas davon zu erzählen. Sie würde sogleich eine Romanze wittern, Gott bewahre! Es war keine Romanze, dachte sie mit schiefem Grinsen, und sie hoffte inständig, dass es niemals aus Verzweiflung so weit kam ... auch wenn das Tom gegenüber unfair war. Er war ein wunderbarer Gesellschafter und Freund. Nachdem sie bestellt hatten, hob Tom sein Glas. »Cheers!«
»Cheers«, antwortete Jess.
»Ich habe nicht vor, über die Arbeit zu reden«, begann Tom und stellte sein Glas ab. »Aber im Hinblick auf den Toten, zu dem Sie mich gestern gerufen haben ...«
Jess stöhnte. »Schießen Sie los, wenn es denn sein muss ...« Dann hellte sich ihre Miene auf. »Hey - wissen Sie schon, woran er gestorben ist?«
»Noch nicht mit Bestimmtheit. Aber ich denke - ich bin ziemlich sicher -, dass es eine Kombination aus Tabletten und Alkohol war. Es gibt Anzeichen für eine Herzerkrankung im Frühstadium. Er wusste wahrscheinlich noch nichts davon, doch es hat ihn geschwächt. Ich habe Proben ins Labor geschickt und warte auf das Ergebnis. Doch die Anzeichen sind alle da. Er hatte eine sehr üppige Mahlzeit kurz vor seinem Tod. Fleisch und Gemüse in einer Weinsauce, Bœuf Bourguignon oder etwas in der Art. Er hatte so gut wie keine Zeit mehr, um mit der Verdauung anzufangen. Alles schwamm noch in seinem Magen, und ...«
»Tom!«, unterbrach ihn Jess. »Wir essen gleich!«
»Sorry. Nun ja. Was ich sagen wollte - er hat irgendetwas mit starkem Aroma gegessen. Wenn das Essen manipuliert war, dann wäre es ihm nicht aufgefallen. Ich sage das nicht als Vermutung oder Verdacht. Ich sage nur, es wäre möglich. Ich versuche nicht, Ihre Arbeit zu machen.«
»Aha ...« Jess blickte nachdenklich drein. »Sie sagen, er könnte vergiftet worden sein. Das dachten Sie gleich, als Sie ihn zum ersten Mal gesehen hatten.«
»Ich dachte mir, dass es Sie interessieren würde, Sherlock. Natürlich könnte er die Pillen auch selbst genommen haben.«
»Wenn er das vorgehabt hätte, hätte er sich wohl eher mit den Pillen und einer Flasche Schnaps ins Bett gelegt. Ich sehe ihn nicht als Freund der französischen Küche,
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