Mord im Atrium
angegriffen worden?«
Als Zosime nicht antwortete, kam ich wieder hoch. Dann sagte sie: »Natürlich ist das möglich. Die Kranken sind besonders gefährdet. Während er hier lag, könnte er von einem gleichgültigen Passanten getreten worden sein.«
»Oder er wurde absichtlich zusammengeschlagen«, meinte ich.
»Er zeigt keine Anzeichen ernsthafter Gewalteinwirkung.«
Ich sah sie durchdringend an. »Sie haben also nachgeschaut?«
Sie starrte zurück und gestand dadurch offen ein, dass sie halbwegs erwartet hatte, eine unnatürliche Todesursache zu entdecken. »Ja, habe ich, Falco.«
»Sie sagten, ›zu viele‹. Zeichnet sich da ein Muster ab?«
»Das Muster ist Tod durch Misshandlung. Das ist die Norm für gesellschaftliche Außenseiter … Was wollen Sie von mir hören?«, brach es plötzlich laut aus ihr heraus. Jetzt war es an mir, verdutzt zu sein. Dann schwächte sich ihre Verärgerung über mich zu etwas Traurigerem ab. »Wer würde Landstreicher und Entlaufene töten? Zu welchem Zweck?«
»Sie kennen Ihr Geschäft, Zosime.«
»Ja, allerdings«, erwiderte sie, immer noch ärgerlich, aber auch bedrückt. Es lag an der Jahreszeit.
Ich erzählte ihr von dem vermissten Flötenspieler und bat sie, nach dem Jungen Ausschau zu halten. Ihr würde er vielleicht vertrauen. Dass er jetzt noch unterwegs war, schien unwahrscheinlich. Die Straßen waren kalt, einsam und so gut wie leer. Ich verließ Zosime und ging nach Hause.
Wenn ich Glück hatte, würde ich ein warmes Bett und eine entgegenkommende Frau in meinem Haus finden. Mein Haus – selbst die Tatsache, dass es einst das meines Vaters gewesen war, verlieh diesem Begriff zusätzliche Stabilität. Ich war jetzt ein vermögender Mann. Ich besaß Haus, Frau, Kinder, Hund, Erben, hatte Arbeit, Aussichten, Vergangenheit, war öffentlich geehrt worden, besaß eine Dachterrasse mit Feigenbaum, Verpflichtungen, Freunde, Feinde, die Mitgliedschaft in einem privaten Gymnasium – all das Drum und Dran der Zivilisation. Aber ich hatte Armut und Entbehrung gekannt. Daher verstand ich auch die andere Welt Roms. Ich wusste, wie der Mann, der tot auf den Stufen lag, so weit gesunken sein konnte, dass ihm selbst das Atmen zu mühsam vorgekommen war. Oder wie – auch wenn es ihm gelungen wäre, weiterzumachen – andere zerlumpte Gestalten über ihn hergefallen sein könnten, weil seine Krankheit ihn noch schwächer und hoffnungsloser machte als sie; die ewigen Opfer endlich in der Lage, Macht auszuüben. Die beste und schlimmste Art von Macht, nämlich die über Leben und Tod.
Das waren große Gedanken. Passend für einen einsamen Mann, der über eine leere Steintreppe zwischen eleganten, erhabenen alten Tempeln von einem der sieben Hügel Roms hinabstieg und sich in diesem Moment für den Herrn des Aventin hielt. Doch ich hatte bemerkt, dass Zosime auf den Tod des Entlaufenen nicht mit großen Gedanken, sondern mit müder Resignation reagiert hatte. Sie hatte geglaubt, er sei auf dem Wege der Besserung, jedoch befürchtet, ihn tot aufzufinden, und das bedrückte sie. Ich hatte ihre Art der Gefühle auch schon früher gesehen. Aus ihr sprach der Lebensüberdruss derjenigen, die wissen, dass ihre Bemühungen vergeblich sind. Die Stadt ist verkommen. Viele Menschen kennen nichts als Elend. Viele andere verursachen dieses Elend, die meisten von ihnen wissentlich.
Wie ihre Vorgeschichte auch aussehen mochte – vermutlich war Sklaverei dabei und ganz bestimmt Armut –, Zosime war Realistin. Sie hatte lange genug gelebt, um das brutale Leben auf der Straße zu begreifen. Ihre Arbeit mit Entlaufenen stützte sich auf Erfahrung. Sie idealisierte diese Arbeit nie. Sie war sich durchaus bewusst, dass die Unterernährung und die schiere Verzweiflung der Entlaufenen ihr vermutlich entgegenarbeiten würden. Heute Nacht hatte sie jedoch geglaubt, dass schlimmere Kräfte am Werk waren. Das hatte ich ihr angesehen. Zosime hatte mir einen flüchtigen Einblick in ihre Ängste gewährt.
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SATURNALIEN ,
ERSTER TAG
Sechzehn Tage vor den Kalenden des Januar (17. Dezember)
XXXVII
D ie Morgendämmerung näherte sich, als ich mein Haus erreichte. Mein Riegelheber funktionierte nicht. Ich war ausgesperrt worden.
Ich tat das, was Petronius und ich bei seinem Haus zu tun pflegten. Ich drehte mich auf der Schwelle um und blickte die verlassene Straße entlang, als würde sich dadurch die Tür hinter meinem Rücken durch Magie öffnen. Dieser Trick hatte schon damals nicht
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