Mord im Atrium
weitergezogen.«
»Wohin?«
»Das kann ich nicht sagen.«
Konnte sie nicht, oder wollte sie nicht? Ich hakte nicht nach. Es gab andere Fragen, die Vorrang hatten. Mir fiel auf, dass »weitergezogen« eher auf Entscheidung als auf panische Flucht hindeutete. »Wie lange war sie in Ihrem Tempel? Und hat jemand sie dort besucht?«
»Nur ein paar Tage. Keine Besuche, soviel ich weiß. Aber sie wurde nicht als Gefangene behandelt, während sie bei uns war.«
Also hätte jeder sie besuchen können. Ganna, zum Beispiel. Vermutlich nicht Justinus, doch bei Männern, die in ihre romantische Vergangenheit verliebt waren, wusste man nie. Seine Eltern und seine Frau hatten ihn unter Beobachtung gehalten, aber jeder Mann, der unbeschadet das fünfundzwanzigste Lebensjahr erreicht, hat gelernt, wie man sich häuslicher Kontrolle entzieht. »Hat sie Scaeva jemals erwähnt?«
»Nein.«
Das war ebenso harte Arbeit wie einen riesigen Misthaufen mit einer sehr kurzen Schaufel umzuschichten. Ich versuchte es aus einer anderen Richtung. »Erzählen Sie mir, was Sie nachts bei den Landstreichern machen. Ich hörte, Sie haben Veleda dorthin mitgenommen.«
»Sie kam nur einmal mit. Sie wollte Rom sehen. Ich hielt das für eine Gelegenheit zu überprüfen, wie gut sie sich erholt hatte.«
»Rom sehen? Irgendeinen bestimmten Teil der Stadt? Eine Adresse?«
»Nur ganz allgemein, Falco. Sie saß auf einem Esel und ritt hinter mir her, während ich die Straßen abklapperte. Ich halte nach diesen Häufchen Elend in Hauseingängen Ausschau. Wenn Sklaven oder andere Obdachlose in Schwierigkeiten sind, versorge ich sie vor Ort, wenn ich kann, oder nehme sie mit zum Tempel, wo wir sie richtig pflegen können.«
»›Überbringer des Todes‹.«
»Wie bitte?«
Ich spielte auf Zoilus an, den Geister-Mann, der sich an der Via Appia herumtrieb. »Warum sollte jemand Veleda – oder Sie – als Überbringer des Todes bezeichnen?«
»Aus überhaupt keinem Grund.« Zosime war ungehalten. »Außer er war betrunken oder dement.«
»Die entlaufenen Sklaven haben Veleda mit Ihnen gesehen –«
»Ich bin für meine wohltätige Arbeit bekannt, Didius Falco. Man respektiert mich und vertraut mir. Die Sklaven wollen die Hilfe zwar nicht immer annehmen, aber sie verstehen, warum sie angeboten wird. Ich bin schockiert über Ihre Andeutung.«
»Neulich Nacht«, erinnerte ich sie, ohne auf ihre Rhetorik einzugehen, »sah ich jemanden auf einem Esel, der sich nahe der Porta Capena einem Mann näherte. Einem Landstreicher, der in einem Eingang lag. Ein Toter.«
»Ich besuche diese Gegend«, gab Zosime steif zu. Sie würde den Vorfall mit der Leiche nicht einräumen. Doch sie hatte denselben Körperbau wie die Gestalt mit der Kapuze, die ich gesehen hatte. Jetzt wünschte ich abgewartet zu haben, was die Person tat, als sie die Leiche fand. »Wenn er eindeutig tot war, hätte ihm unser Tempel nicht mehr helfen können. Wir sorgen für die Bestattungen von Patienten, wenn sie sterben, während sie bei uns auf der Insel sind, aber man rät mir davon ab, Tote mitzubringen.« So, wie sie »abraten« sagte, deutete das auf Streit mit der Tempelverwaltung. Ich konnte mir Zosime durchaus als schwierige Angestellte vorstellen. Ich spürte, dass es im Tempel schon länger Ärger gab wegen ihrer nächtlichen guten Taten. Die Leute dort, vor allem ihre Vorgesetzten, die mit den Budgetvorgaben fertig werden mussten, würden die aktive Suche nach zusätzlichen Patienten wahrscheinlich missbilligen – Patienten, die definitionsgemäß kein eigenes Geld und keine liebende Familie oder Besitzer hatten, um für ihre Behandlung aufzukommen. »Sind Sie absolut sicher, Falco? Vielleicht war der Mann, den Sie gesehen haben, nur einfach reglos und hat geschlafen.«
»Oh, ich kenne den Tod, Zosime.«
Sie warf mir einen kühlen Blick zu. »Das kann ich mir denken.«
Als Kompliment war das nicht gedacht.
XXX
F erne Geräusche drangen herein. Begeisterte Schreie kündeten an, dass Helenas Vater, der Senator, eingetroffen sein musste und von meinen Töchtern überfallen wurde. Camillus Verus verstand es, Großvater zu sein – mit unkritischer Liebe und vielen Geschenken. Er wusste nie so recht, was er mit Favonia anfangen sollte, einem schroffen, zurückhaltenden Kind, das in seiner eigenen Welt lebte, aber Julia, die ein offeneres Wesen hatte, war von Geburt an seine Wonne gewesen. Jedes Mal, wenn er kam, brachte er ihr einen weiteren Buchstaben des Alphabets bei. Das
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