Mord im Bergwald
deutlich kühler und professioneller: »Ich habe den abschließenden Bericht noch nicht fertig, aber eins ist sicher. Der Schädel sieht übel aus, und das kommt nicht vom Tierfraß.«
Irmi bebte innerlich. Konnte der Typ nicht einfach Klartext reden? »Und das heißt konkret?«
»Auf den Schädel wurde massiv eingewirkt. Die Schädeldecke ist Matsch«, erklärte der Gerichtsmediziner.
»Ihm wurde der Schädel eingeschlagen?«
»Zu siebzig Prozent ja. Es besteht allerdings eine Chance von dreißig Prozent, dass er beim Bergsteigen extrem unglücklich gestürzt ist. Finden Sie die Absturzstelle oder die Mordwaffe. Steine haben Sie da draußen ja genug rumliegen.« Er lachte, riss sich dann aber am Riemen und meinte: »Ich maile Ihnen den Bericht, sobald er fertig ist. Um hundertprozentig sicherzugehen, müssten Sie wirklich die Mordwaffe finden. Der Schädel ist durch einen kantigen Gegenstand verletzt worden. Ich habe Spuren von Calcit und Aragonit gefunden, kommt im typischen Kalkstein des Karwendels vor.«
»Und wann ist es passiert?«, fragte Irmi.
»Mittwoch letzter Woche. Das können wir relativ genau sagen, obwohl der Kerl wirklich übel zugerichtet ist.« Er klang, als erwarte er Lob.
Doch das Lob blieb aus. »Was ist mit dem Fundort?«, erkundigte sich Irmi stattdessen.
»Ich gehe davon aus, dass der Ort des Geschehens nicht identisch ist mit dem Fundort. Es gab an dem Toten Schleifspuren und weitere Prellungen, aber ob diese von einem Sturz herrühren oder ihm vorher beigebracht worden sind, das wissen nur die Bergtrolle. Der Zustand der Leiche macht das alles eben etwas schwieriger.«
Irmi bedankte sich. Sie war mehr als unzufrieden mit den Ergebnissen. Eine Chance von siebzig zu dreißig bedeutete, dass es nicht unbedingt ein Gewaltverbrechen sein musste. Wo sollte sie bloß anfangen mit den Ermittlungen? Sie beschloss, erst einmal auf den Hof der Fichtls zu fahren, um sich ein Bild von der Familie zu machen.
Auf dem Weg nach Mittenwald spielten die Gedanken in ihrem Kopf Fangen. In Mittenwald war sie schon länger nicht mehr gewesen. Zuerst begrüßten sie der Ein-Euro-Shop, das Dubrovnik und der Mercedes-Grill. Das also waren die Ikonen eines alpenromantischen Geigenbauorts, dachte sie. Sie parkte ihr Auto in der Bahnhofstraße, wo bald ein Fünfsternehotel entstehen sollte. Dann lief sie ein wenig planlos herum, ehe sie das Tourismusbüro enterte.
Ein bulliger Mann machte gerade eine Urlauberfamilie flott, die nett anfragte, ob es eine Alm gebe, die man mit dem Auto erreichen könne, damit die gehbehinderte Oma auch mal ins Tal schauen könne.
Er blaffte sie an: »Des san Barch und koane Buckln. Mir san doch ned im Allgäu, wo ma auf d' Barch aui fahrt.«
O ja, das war die vielgepriesene Charmeoffensive im Karwendeltourismus! Mit solchen Leuten an vorderster Front schuf man eine echte Gästebindung. Irmi hatte sich eigentlich einen Ortsplan holen wollen, verwarf den Gedanken aber umgehend und zog von dannen. Lieber fragte sie im Gasthaus Stern nach dem Hof der Fichtls, wo man ihr weiterhalf.
Der Hof lag draußen in den Buckelwiesen. Hügelchen, kleine Asphaltsträßchen, ein Meer aus wogenden Gräsern – umstanden von schroffen Bergen. Eine eigene Welt, wie ein Labyrinth. Nach einigen Irrwegen stand sie vor dem Wohnhaus. Es war alt, aber gut gepflegt. Der Agrotron war neu, der Pöttinger Kreisler und Ladewagen desselben Fabrikats ebenfalls. Die Haustür stand offen und gab den Blick auf einen langen, dunklen Gang frei. Irmi rief ein »Hallo?« hinein.
Wenig später trat Peter Fichtl aus einer Tür am Ende des Ganges. »Frau Kommissar, kommen Sie doch herein«, rief er ihr zu.
Sie folgte ihm in die Küche. Der hellbraune Linoleumboden war abgewetzt, an einigen Stellen kamen alte Bodenfliesen durch. Die Küchenzeile in einem undefinierbaren Farbton zwischen Grün und Gelb hatte bessere Zeiten gesehen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein altes dunkelbraunes Büfett mit Glasschiebefächern. Auf den Fliesen klebten Pril-Blumen. Viele Bauernküchen sahen so aus: lieblos zusammengewürfelt, Orte des Kommens und Gehens, Latzhosenzone. Fürs ordentliche Sitzen gab es schließlich die Stube.
An der Stirnseite der Küche, unter dem kleinen Fenster mit den rotkarierten Vorhängen, stand ein wackliger Tisch mit Eckbank. Am Tisch saßen ein schmaler Mann in einem Rollstuhl und ihm gegenüber eine kleine, zarte Frau. Bartholomäus und Afra Fichtl, die Eltern des Toten. Die Mutter erhob sich,
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