Mord im Bergwald
als Irmi eintrat, und es schien ihr unendlich schwerzufallen.
»Frau Fichtl, Herr Fichtl, mein Beileid«, sagte Irmi.
Frau Fichtl hauchte ein »Danke«. Herr Fichtl sah ins Leere. Seine linke Gesichtshälfte hing ein wenig herab, genauso wie sein linker Arm, der baumelte, als gehöre er nicht zum Körper.
»Nehmen Sie einen Kaffee?«, fragte Frau Fichtl.
»Gerne.«
Sie verschwand durch eine Tür und kam wenig später mit den guten Tassen wieder. Rosenthal, feines, fast durchsichtiges Porzellan. Der Kaffee war dünn wie gefärbtes Regenwasser. In der Zuckerdose hatte eine Fliege ihr Leben gelassen.
Sie schwiegen eine Weile, bis Herr Fichtl plötzlich sagte: »Des hot so kommen müssen!«
Trotz seiner Lähmung sprach er überraschend artikuliert. Mit seinem gesunden Arm hatte er den anderen gepackt und auf die Lehne seines Rollstuhls gezogen.
»Wenn man sich an allen versündigt!«, rief er, auch seine Stimme war kräftig und passte nicht zu seiner Erscheinung.
Irmi bekam eine Ahnung davon, dass dieser Mann trotz seiner mangelnden Körpergröße einst einer von denen gewesen war, denen man zugehört hatte. Der sich Gehör verschafft hatte. Plötzlich begannen seine Augen zu flackern. Sie waren blau wie die seiner Söhne, verwaschen, aber immer noch sehr blau. »Verraten hat er unsere Sache, die Nachbarn, das Dorf, schämen hat man sich müssen!«
Seine Frau sagte mit gepresster Stimme: »Bartl, so versündig du dich doch nicht. Der Bua ist tot.«
Irmi griff ein: »Herr Fichtl, Ihr Sohn hatte es abgelehnt mitzustreiken. Warum?«
Von Bartl Fichtl kam nur ein wütendes Schnauben. Peter Fichtl antwortete an seiner Stelle: »Pius war der Meinung, dass so ein Streik sowieso nichts nütze, weil die Molkereien sich dann stattdessen Milch aus dem Osten holen würden, und dass nur ein europaweiter Streik etwas bewirken könne.«
Irmi kannte diese Argumente aus Diskussionen mit Bernhard. Die Streikgegner hatten in gewisser Weise recht behalten: Die Molkereien waren tatsächlich auf Milch aus dem Osten ausgewichen. Dennoch war Irmi fest davon überzeugt, dass der Streik Bewegung in die Sache gebracht hatte. Sie hatten nur zu früh mit dem Streik aufgehört, fand sie. Nächtelang hatte sie in ihrer Küche den harten Kern des BDM debattieren hören. Sie hatte Hasstiraden gegen den Bauernverband gehört und nie ganz begriffen, warum man sich in Zeiten wie diesen auch noch gegeneinanderstellen musste. Wo es um die Existenz und nicht um Parteibücher oder Verbandszugehörigkeiten ging.
»Ihr Bruder war beim Bauernverband, nicht beim BDM. Warum eigentlich?«
»Wir waren immer beim Bauernverband«, sagte Peter Fichtl lahm.
»Ich war zehn Jahre Kreisvorsitzender«, wetterte der Vater. »Des san alles Kasperlköpf beim BDM. Do hocken Großkopferte in München, die sich fettfressen und BMW fahren. Die ihre Milch beim Aldi kaufen. Sack drüber, draufschlagen, immer gut, du triffst den Richtigen.«
Selbst im Rollstuhl strahlte der Alte ungeheuer viel Kraft aus, und Irmi konnte ermessen, was es für ihn bedeuten musste, gefesselt zu sein. Gefesselt an einen schwachen Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.
»Aber meinem sauberen Herrn Sohn war das sowieso egal. Die Milch hat ihn gar nicht mehr interessiert.«
Als Afra Fichtl leise zu weinen begann, drosselte Bartl Fichtl auf einmal seine Stimme: »I bin ja scho ruhig, Stutzerl.« Sie erhob sich, ging um den Tisch herum, setzte sich neben ihn. Er legte seine gesunde Hand auf ihre.
Irmi schluckte einen Kloß hinunter, der von irgendwo gekommen war. Der scharfzüngige und cholerische alte Mann nannte seine Frau liebevoll »Stutzerl«. Offenbar war sie die Einzige, die ihn bändigen konnte.
»Es tut mir leid, dass ich so was fragen muss, aber Ihr Sohn hatte ja ganz offensichtlich Feinde. Wer davon könnte so weit gegangen sein, ihn körperlich zu attackieren?«
»War es denn Mord?« Peter Fichtls Stimme zitterte.
Irmi suchte den Blick von Afra Fichtl, anschließend den von Bartl. »Das wissen wir nicht«, sagte sie dann. »Wir können einen Unfall nicht ganz ausschließen. Und es gibt ja auch die Möglichkeit, dass es Streit gegeben hat, dass Ihr Sohn gestürzt ist. Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen. Und deshalb ist es so wichtig, dass Sie mir sagen, wer Pius wirklich gehasst hat.«
»Gehasst hat ihn keiner«, sagte Afra. »Sie haben ihn nur nicht verstanden.«
»Ich hab ihn auch nicht verstanden«, sagte Bartl. »Peter auch nicht. Oder, Bua?«
Peter Fichtl
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