Mord im Garten des Sokrates
dazu.
Als der erste Quaderstein der Mauer fiel, fiel Athen. Wir ergaben uns ohne einen einzigen Schwerthieb. Als die Mauer niedergerissen war, öffneten wir unsere Tore und senkten die Häupter. Draußen wartete schon das ruhmreiche spartanische Heer. Der Krieg war zu Ende, wir waren besiegt. Lysander fuhr in Piräus ein.
ich hatte vom tor aus beobachtet, wie sie die Mauer schleiften. Von dort aus sah ich auch das Heer des Feindes heranrücken. Noch bevor der erste eisenbeschlagene Spartanerstiefel aber athenischen Boden berührte, verließ ich meinen Posten, um zu meiner Frau und meinen Kindern zu kommen, die zu Hause warteten. Schon vor einigen Monaten hatten wir im Keller einen kleinen, nur über eine verborgene Falltür erschlossenen Raum eingerichtet und mit Betten, Decken, Wasser und Vorräten ausgestatten, um uns dort einige Tage zu verstecken. Dorthin wollten wir uns nun zurückziehen, um zu sehen, ob die Spartaner ihr Wort halten und unser Leben vorschonen würden. Aspasia erwartete mich gespannt. Sie hatte die Kinder bereits nach unten geschickt, aber selbst nicht in den Keller gehen wollen, bevor ich nicht dazukam. Ich küsste sie dankbar und nickte, als ich ihren fragenden Blick sah. Das genügte, und sie wusste, dass Mauern und Stadt gefallen waren. Aspasia schlug kurz die Augen nieder, besann sich aber schnell. Der weibliche Geist ist in den Momenten der Gefahr sehr viel mehr auf die Familie und den eigenen Hausstand gerichtet als auf den Staat. Die Frau trauert daher weniger um den Verlust einer Stadt als der Mann und sorgt sich mehr darum, im Augenblick der Gefahr ihre Nächsten um sich zu scharen.
Aspasia drängte zum Aufbruch. Ich suchte aber noch einen alten Bogen, um ihn mit nach unten zu nehmen. An der Waffe selbst lag mir nichts, aber ich wollte sie unter keinen Umständen in den Händen des Feindes wissen. Ich konnte sie aber im ganzen Haus nicht finden. Endlich erinnerte ich mich, den Bogen im Schuppen gelassen zu haben, als ich meinen Söhnen zuletzt Unterricht gegeben hatte. Aber auch dort suchte ich vergeblich. Ich öffnete gerade eine alte Truhe, um nachzusehen, ob ich ihn vielleicht dort verstaut hatte, als ich hörte, wie das große Eingangstor ins Schloss fiel. Ich ging sofort hinaus, konnte aber weder im Garten noch im Gang eine Menschenseele entdecken. Sicher, mich getäuscht zu haben, gab ich die Suche auf und ging in die Küche, wo der Einstieg zu unsrem Versteck offen stand. Ich kletterte hinunter und fand Aspasia allein.
«Wo sind denn die Kinder?», fragte ich, während ich meinen Harnisch abnahm. Aspasia richtete gerade unser Lager. «Ich dachte, bei dir!», antwortete sie, und ihre Augen weite ten sich vor Schrecken. «Das Tor! Sie müssen hinaus sein!», rief ich entsetzt. Sofort legte ich meine Waffen wieder an und beeilte mich, nach oben zu kommen. Schneller als ich indessen war Aspasia auf der Leiter und kletterte geschwind wie eine Katze hinauf. Erst beim Eingangstor konnte ich sie einholen und festhalten. «Aspasia, bleib hier!», sagte ich. «Wer weiß, was die Spartaner mit euch Frauen machen!» Sie aber riss sich los wie eine Furie, schrie: «Die Kinder» und stürmte so schnell davon, wie ich sie noch nie habe laufen sehen, ja schneller, als ich selbst laufen konnte. Ich hatte größte Mühe, ihr nur zu folgen; sie einzuholen war unmöglich. Wir rannten durch die verwinkelten Gassen des Kerameikos, die sich wie leergefegt vor uns auftaten. Offenbar hatten die Athener getan, was uns nun misslungen war, und alle in ihren Häusern und Kellern Schutz vor den Soldaten gesucht.
«Zum Tor!», rief ich Aspasia zu, als sie für einen Moment
zögerte und nicht wusste, welchen Weg sie einschlagen sollte.
«Sie haben den Bogen!»
Die Nachricht entsetzte sie erneut; augenblicklich sprengte sie mit noch größerer Wut los als zuvor. Wir rannten, bis wir endlich zum Dromos kamen, auf dem die spartanische Armee schon wie ein gewaltiger Tausendfüßler voranschritt. Das Doppeltor war offen. Der Feind nahm Besitz von unserer Stadt, aber da war kein Stürmen und Plündern. Die Spartiaten marschierten ein mit dem ihnen eigenen Ernst und der ihnen eigenen Disziplin. Ein spartanischer Hauptmann, sechs Fuß groß und breit wie ein Bär, stand an der Seite und überwachte seine Truppe. Ungeachtet der schweren Schritte seiner Soldaten musste er uns gehört haben, denn er drehte sich plötzlich zu uns und griff nach dem Knauf seines Schwertes, zögerte aber, es auch zu ziehen. Einen
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