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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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Einwohnern und seinen Flüchtlingen nicht nähren. Dann schickte Theramenes einen Boten zum Rat, um einen kurzen Zwischenbericht zu geben. Lysander habe ihn nur hingehalten und ihn jetzt endlich nach Sparta selbst geschickt, um zu verhandeln. Er sei aber sicher, Sparta selbst habe vom Krieg endgültig genug, und sei zuversichtlich, zwischen den Städten Frieden stiften zu können …
    Dem Herbst folgte der Winter; es war der kälteste, den Attika bis dahin erlebte hatte. Die Pfützen und Brunnen gefroren, der Ilisos versiegte. Eisiger Reif bedeckte die Olivenbäume, und böse Winde tobten über unseren Köpfen. Die Toxotai zogen Morgen für Morgen durch die Stadt, um die Toten der Nacht zu bergen. Ich habe in jenen Tagen Kinder gesehen, die in den Armen ihrer Mütter erfroren sind, nachdem diese verhungert waren.
    Auch in unserem Haus holte Hades sich sein Opfer. Es war kurz nach der Wintersonnenwende, wenn die Tage wieder etwas länger und heller werden, dafür aber umso kälter sind. Ich erwachte schweißgebadet. Neben mir lagen Aspasia und die Kinder. Zum Schutz gegen die Kälte schliefen wir in jenem Winter in nur einem Bett. Ihr Atem dampfte, so kalt war es selbst hier. Es war eigentümlich ruhig im ganzen Haus, und diese Stille machte mir Angst. Ich erhob mich leise, warf meinen Wollmantel um und verließ das Schlafzimmer. Es wurde allmählich hell. Allzu früh konnte es nicht mehr sein. Ich ging in die Küche und fand unseren Kamin kalt. Auch das letzte Stückchen Kohle war zu Asche zerfallen. Da ahnte ich, was geschehen war.
    Die Tür zu Tekas kleiner Kammer lag gleich neben der Feuerstelle. Ich öffnete sie behutsam und gab mich kurz der vagen Hoffung hin, unsere alte Sklavin mochte verschlafen und das Feuer vergessen haben – zum ersten Mal in ihrem Leben, soweit ich mich erinnern konnte. Ihr Zimmerchen lag im Halbdunkel des frühen Morgens. Ich konnte kaum ihren schmalen Körper zwischen den Laken ausmachen. Sie lag da, regungslos, ganz starr. Nichts hob und senkte mehr ihre Brust, kein Atemhauch war mehr zu hören.
    Ich hätte sie gerne neben meinen Eltern bestattet, aber der große Friedhof lag außerhalb der Mauern, dort wo jetzt die Spartaner in ihren Zelten froren. Also beerdigte ich Teka in unserem Garten, gleich unter dem Feigenbaum. Die Erde war so hart gefroren, dass ich kaum ein Grab für sie ausheben konnte. Zwei Schaufeln zerbrachen in meinen Händen, bevor ich endlich ein flaches Loch in den Boden gekratzt hatte, das ihren zarten Leib aufzunehmen vermochte. Ihr Körperchen war klein und zierlich, fast wie der Leichnam eines Kindes.
    Aspasia, die Kinder und ich standen traurig und verloren an der Bahre, um von Teka Abschied zu nehmen, bevor wir sie der Erde übergaben. Mit ihrem Tod hatte ich alle Menschen verloren, die mich aufgezogen und seit meiner Kindheit begleitet hatten. Endgültig war ich nun erwachsen und endgültig eine Waise. Ob Sokrates wohl recht hatte: Gab es eine unsterbliche Seele? Dann wäre der Tod nur für die Überlebenden schrecklich.
    Dem kalten Hungerwinter folgte ein Frühling, der, wie um uns zu beschämen, an Farbe und Pracht alles übertraf, was ich je erlebt hatte. Von einem Tag auf den anderen grünten die Gärten am Fuße der Akropolis, die Zedern und Pinien schüttelten das Grau des Winters ab, und die Oliven-, Apfel- und Quittenbäume öffneten ihre Blüten in verschwenderischer Fülle. Ein solcher Frühling verhieß reiche Ernte, aber er verhieß sie eben nur. Noch war kein Apfel zu pflücken und keine Olive reif. Die Toxotai mussten die Hungernden mit Ruten aus den Obstgärten treiben, damit sie in ihrer Not nicht die Blüten aßen.
    Endlich kam Nachricht von Theramenes. Es werde Frieden geben, hieß es, die Spartaner würden abziehen, ja sie wollten uns sogar mit Weizen und Saatgut versorgen, wurde gemunkelt. Ich wagte nicht, es zu glauben. Aber doch, es sei gewiss, erzählte man allerorten. Nichts außer vielleicht der Pest verbreitete sich in Athen so schnell wie ein Gerücht.
    Wenige Tage später wurde die nächste Vollversammlung einberufen. Sie bot ein gespenstisches Bild. Tausende halbverhungerter Männer mit hohlen Wangen und hohlen Augen schleppten sich auf die Pnyx; kaum hatten sie noch genug Kraft in den Knochen, den Berg zu erklimmen. Die Greise, die noch vor wenigen Monaten auf den vordersten Bänken gesessen hatten, blieben verschwunden, und die Jungen, die ihnen folgten, waren vorzeitig vergreist. Auch an mir schlotterte der Chiton. Wenn mich

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