Mord im Garten des Sokrates
müsste es ebenso gehen. Sollte ich nicht bemerkt haben, was um mich herum geschah, die Grüppchen übersehen, die sich überall bildeten, und das Getuschel der Menschen überhört? Ich muss gestehen, so war es, leider.
Am Ares-Tempel sah ich Xenophon. Er unterhielt sich mit ein paar fremden Soldaten; nichts schien ihn in jenen Tagen mehr zu interessieren als das Militär.
«Xenophon, mein Freund!», grüßte ich von Weitem, als er sich auch schon aus der Gruppe löste und, aus Freundespflicht, wie mir schien, zu mir kam. Mit ihm hatte ich gar nicht gerechnet. Ich war gerade auf dem Weg zum Hause Simons, um dort vielleicht Sokrates zu treffen, den ich schon lange nicht gesehen hatte.
«Ich wollte dich nicht stören», sagte ich entschuldigend, «bleibe ruhig bei deinen Kameraden. Ich mache nur einen kleinen Abendspaziergang.»
«Nein, ich wollte sowieso los», antwortete er und legte mir vertraulich den Arm um die Schulter. «Ich begleite dich gerne ein Stück.»
«Du sprichst viel mit den Spartanern in letzter Zeit», bemerkte ich, als wir ein paar Schritte gegangen waren.
«Findest du das falsch?», fragte er sofort.
«Nein, es fiel mir nur auf. Was zieht dich so zu ihnen?» «Weißt du, Nikomachos», antwortete er, «ich glaube, es sind
gar nicht die Spartaner, die mich so anziehen. Es ist das Fremde, das mich nicht mehr loslässt, und Athen, das mich abstößt.» «Du willst fort?»
Xenophon nickte, fast verschämt.
«Weißt du», sagte ich, als wir schon vor Simons Werkstatt standen, «ich glaube nicht, dass etwas falsch daran ist, wenn es dich wegzieht. Du bist ein junger Mann. Du hast keine Frau und keine Kinder. Wenn du die Welt kennenlernen willst, ist das der beste Moment. Ich will dich nur um eins bitten …»
«Ja?», fragte er gespannt.
«Sprich mit Sokrates.»
Xenophon versprach es. Er schien mir erleichtert. Dabei hatte ich kaum verstanden, was ihn so bewegte und was ihn wegtrieb.
Ich klopfte an und trat bei Simon ein. Xenophon folgte mir. Der strenge Geruch von frisch gegerbtem Leder stand im Raum. Simon saß auf einem Schemelchen und trieb wütend einen Nagel in eine Sohle.
«Er ist nicht da!», sagte er, ohne aufzusehen, nahm den nächsten Nagel aus dem Mund und schlug ihn mit beinahe noch größerer Wut in den Schuh.
«Hast du ihn denn heute schon gesehen?»
«Seit der Versammlung nicht mehr.»
Wir machten, dass wir davonkamen. Simon war an sich ein umgänglicher Mensch, aber hin und wieder wurden ihm die vielen Sokratesschüler doch zu anstrengend. Dann wurde er einsilbig, und wenn auch das nichts half, warf er jeden aus dem Laden, der nichts mit Schuhen zu tun hatten. Xenophon und ich kannten seine Launen allzu gut und suchten schnell das Weite.
«Wie war eigentlich die Versammlung?», fragte ich, nachdem wir wieder vor dem Tholos-Gebäude standen. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Häuser um uns in bronzefarbenes Licht.
«Das weißt du nicht?», rief Xenophon aus. «Warst du denn nicht auf der Pnyx?»
«Nein», antwortete ich entschuldigend, «ich war am Hafen. Eines meiner Schiffe ist eingelaufen.»
«Dann hast du aber etwas versäumt», meinte Xenophon. «Stell dir vor: Die Prytanen» und dieses Wort unterstrich er mit einer abfälligen Geste in Richtung Rathaus, «haben vorgeschlagen, ein Gremium zu wählen, das die Gesetze der Stadt überarbeiten und Athen dann nach diesen neuen Gesetzen regieren soll.»
«Regieren? Du meinst, sie haben eine neue Regierung eingesetzt, die auch noch die Gesetze umzuschreiben darf?»
«Genau so ist es!», bestätigte er mit allem Nachdruck.
«Aber, das … das ist das Ende der Demokratie! Sie haben eine Oligarchie eingesetzt!»
«Genau, das haben sie getan.»
Ich musste mich setzen.
«Und das Volk hat das einfach so hingenommen?»
Xenophon zog die Augenbrauen hoch. «Das Volk war nicht da», antwortete er lapidar. «Die Pnyx war leer. Es waren vielleicht tausend Stimmbürger oben. Niemand hat es für möglich gehalten, dass bei dieser Versammlung irgendetwas Wichtiges beschlossen werde könnte – bis auf diejenigen natürlich, die alles eingefädelt haben.»
«Mein Gott, was für ein Betrug», stöhnte ich und schüttelte ungläubig den Kopf. «Und wer gehört jetzt zu dieser Regierung?»
Xenophon biss sich auf die Lippen. Es war, als fluchte er innerlich, weil ausgerechnet er es sein musste, der mir diese Neuigkeit überbrachte, und gleich sollte ich auch erfahren, warum.
«Sprich!», sagte ich trocken. Xenophon nahm sich viel zu viel Zeit
Weitere Kostenlose Bücher