Mord im Garten des Sokrates
verstanden», antwortete der Soldat. «Aber er hat eine riesige Narbe. Sie geht über das ganze Gesicht.»
Ich blieb stehen und ließ die Toxotai ziehen. Was hatte der junge Bogenschütze da gesagt? Der neue Hauptmann hatte eine Narbe mitten im Gesicht? Sofort sah ich die Fratze vor mir: nachts in der Gasse vor unserem Haus. Eine Hand an meiner Gurgel. Stinkender Atem, der mir wie Pesthauch entgegenschlägt. Neben mir ein Schrei. – Sollte er der neue Hauptmann der Toxotai sein? Meiner Toxotai? Das war nicht möglich! Er war Anaxos’ Mann, was sollten er und sein Herr mit den Dreißig zu schaffen haben? Es gab so viele Soldaten mit Narben … Sicher war es ein anderer. Wieso sollte gerade er? Nein!
Die Erinnerung an den Abend, an dem mein Vater umgekommen war, verließ mich an dem Tag nicht mehr. Auch nicht, als Aspasia, die Kinder und ich uns endlich im Schutze der Dunkelheit davonmachen konnten. Jetzt, da die stolzen Athener Mauern niedergerissen dalagen, war es leicht, die Stadt über Schleichwege zu verlassen. Niemand achtete darauf, wie wir, bepackt mit unseren Habseligkeiten, erst durch das Metökenviertel zogen und uns dann, Akropolis und Lykabettos im Rücken, in Richtung Meer wandten. Trotzdem sprach keiner von uns ein Wort, bevor wir nicht die Stadt und ihre Gefahren hinter uns gelassen hatten.
Die Nacht war hell. Wie eine leuchtende Silberschale stand der Vollmond am klaren Himmel, so nah, als könnte man ihn anfassen. Aspasia und unser kleiner Sohn ritten auf Ariadnes Rücken, die ruhig und friedlich einherschritt. Mein großer Sohn ging an meiner Seite. Ich führte das Tier am Zügel. Linker Hand floss der Ilisos. Er würde uns bis zum Meer begleiten. Der Wind spielte in den Wipfeln. Man hätte sich kaum eine schönere Nacht vorstellen können als diese Nacht des Abschieds.
«Du bist bedrückt», sagte Aspasia, als wir beinahe schon die Hälfte des Weges hinter uns hatten.
«Wir werden uns eine Zeit lang nicht sehen», antwortete ich.
«Du willst nach Athen zurück?», fragte sie.
«Ja, ich werde dort gebraucht. Sobald es geht, komme ich nach.»
«Wir brauchen dich auch. Bist du sicher, dass wir nicht zusammen in Piräus bleiben sollten, bis in Athen alles vorbei ist?», fragte sie. «Mein Vater meint, Kritias wird sich nicht lange halten.»
«Ich bin sicher», antwortete ich und hoffte, sie würde nicht weiter in mich dringen. Hier vor den Kindern und in der Nacht des Abschieds konnte ich ihr nicht erzählen, was ich erfahren hatte. Ich fühlte ihren Blick in meinem Nacken und sah zu ihr hoch. Sogar im Mondlicht war zu erkennen, dass sie mir misstraute. Ich fühlte es deutlich. Aber sie ließ es gut sein, und ich war ihr dankbar dafür.
«Chilon wird nicht begeistert sein, wenn wir kommen», sagte sie, um das Thema zu wechseln. «Du hättest ihm einen Boten schicken sollen, damit er wenigstens auf uns vorbereitet ist.»
«Ich hatte daran gedacht», antwortete ich, «aber dann gäbe es einen Mitwisser. Das wollte ich vermeiden.»
Aspasia sprach nicht weiter. Unser Jüngster war in ihren Armen eingeschlafen. Er atmete ein wenig schwer. Ein dünnes Pfeifen drang durch seine Nase, wie an jenem Abend …
«Na, was ist mit dir?», fragte ich meinen Großen. «Bist du nicht auch müde?»
«Nein, Vater, kein bisschen!», behauptete er tapfer. Ich wusste, dass er schwindelte, und drückte ihn an mich.
Piräus schlief, als wir endlich ankamen. Kein einziges Licht brannte mehr in der Stadt. Sogar in den Spelunken und Bordellen war Ruhe eingekehrt. In den Winkeln lagen ein paar betrunkene Seeleute und schnarchten. Vom Hafen her hörte man das Meer, wie es friedlich gegen die Planken schlug.
Es dauerte eine Weile, bis uns Chilons Tür geöffnet wurde. Dreimal schlug ich gegen das Tor, bis wir endlich die vertraute und reichlich mürrische Stimme seines Sklaven hören konnten.
«Ja, ja, ich komme schon», brummte er durch die Bretter und öffnete den Innenriegel, «wo brennt es denn, Leute? Ich wecke meinen Herrn nicht gerne mitten in der Nacht.» Er öffnete die Tür und sah uns entgeistert an. Er brachte kaum einen Gruß hervor und zog uns so schnell wie möglich in den Hof. Dann lief er ins Haus, um seinen Herrn zu holen.
«Siehst du, Melaos», sagte Chilon und gähnte, als er in den Innenhof trat. «Ich wusste, sie würden kommen!»
«Ja, Herr, ihr habt es gewusst», sagte der Sklave ehrfürchtig, während er uns das Gepäck abnahm, um es ins Haus zu bringen.
Chilon umarmte mich, küsste die Kinder und
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