Mord im Garten des Sokrates
Rückgabe der Schwerter, Schilde und Speere reklamiert? Nichts dergleichen geschah. Die Männer blieben ruhig. Einige rannten auf die Straße, um sich zu vergewissern, dass sie nicht die Einzigen waren, die man ihres Schutzes beraubt hatte. Dann zogen sich alle in ihre Häuser zurück und verriegelten die Tore. An diesem Abend lag bleierne Stille über dem Kerameikos und über der gesamten Stadt.
und die stille blieb. Die Stadt hatte sich verändert, von einem Moment auf den anderen, und niemand wagte, darüber zu sprechen. Die Menschen gingen immer noch ihren Geschäften nach, aber die Lebensfreude und Zuversicht, die sie mit dem Ende des Krieges ergriffen hatte wie ein Frühling, war ihnen genommen. Den Fall der Mauern und den Fall der Stadt hatten sie ertragen können. Der Waffen zum Schutz des eigenen Hauses beraubt, empfanden die Athener sehr viel mehr als beim Einmarsch der Spartaner das Ausmaß ihrer Niederlage, ihrer Demütigung. Jetzt war nicht nur Athen, jetzt waren die Menschen selbst besiegt, in ihrem Innern besiegt, und das war sehr viel schmerzlicher als der Fall der Stadt. Was heißt das schon: Stadt und Polis? Das sind Gedanken, Ideen, unberührbar und letztlich unverletzlich. Aber Haus und Hof, Weib und Kind kann ich fassen und sehen, und ich brauche sie. Nah sind sie mir, ganz nah, und dabei zerbrechlich und verwundbar wie das Glück selbst. Und wer tat uns das an, wer? Unsere eigenen Männer, die Führer der Stadt – und mit diesem Wissen bekamen die Athener eine vage und furchtbare Ahnung davon, dass auch das unglückliche Ende des Krieges mehr mit uns selbst als mit den Spartanern zu tun haben mochte.
In jenen Tagen besuchte ich die Agora nur noch im Schutz der Dunkelheit und hielt mich bis Sonnenuntergang verborgen. Das genügte mir, um zu sehen, was in den Menschen vorging. Mehr noch als sonst in der Stadt fühlte man das Unglück der Menschen auf dem Marktplatz. Das pulsierende Herz Griechenlands drohte zu erstarren. Am dritten Abend nach dem Raub der Waffen traf ich Xenophon, den ich lange nicht gesehen hatte. Sein Gesicht war noch ernster als sonst.
«Xenophon!», rief ich ihn vorsichtig zu mir, wie er gerade an der Zeus-Halle vorbeikam. Gehetzt sah er sich um.
«Nikomachos, entschuldige, ich habe dich gar nicht gesehen», sagte er und kam zu mir herüber. Wie sollte ich mich darüber wundern? Sein Blick war ganz nach innen gerichtet, und ich hielt mich abseits.
«Was ist mit dir?», fragte ich. Es war offensichtlich, dass ihn irgendetwas umtrieb.
«Du weißt schon», antwortete er, «wir haben darüber gesprochen. Die Spartaner ziehen bald ab. Mein Freund hat mich eingeladen. Ich soll ihn begleiten. Es gibt einen persischen Fürsten, der Soldaten anheuert. Vielleicht wäre das etwas für mich?»
«Du willst in den Dienst eines Persers? Hast du mit Sokrates darüber gesprochen?»
Xenophon nickte nur zögerlich.
«Und, was hat er dir geraten?»
«Er meinte, ich solle das Orakel befragen.»
«Und wirst du?»
Xenophon antwortete mir nicht mehr. Er gab vor, schnell nach Hause zu müssen, wo man ihn erwarte. Ich glaubte ihm nicht recht, ließ ihn aber gehen. Was blieb mir übrig? Er würde für sich schon die richtige Entscheidung treffen …
Seit diesem kurzen Treffen habe ich ihn nicht wiedergesehen. Sokrates erzählte mir später, Xenophon habe das Orakel tatsächlich befragt. Aber nicht so, wie der Lehrer es erwartet hatte. Xenophon fragte die Priesterin nicht, ob er Athen verlassen, sondern nur, welchem Gott er sein Geschick auf der Reise anvertrauen sollte. So hatte er denn allein und ganz für sich bestimmt, sein Glück andernorts zu suchen. So wie ihm ging es vielen in jenen dunklen Tagen. Vor allem junge Männer verließen die Stadt, weil sie die doppelte Niederlage nicht mehr ertragen konnten. Wer aber glaubte, Athen hätte mit der Entwaffnung seiner Bürger den Tiefpunkt erreicht, der sollte sich auch darin täuschen.
Die persischen Bankiers! Seit ihrer Ankunft hatte man nichts von ihnen gehört oder gesehen. Man konnte sich vorstellen, wie sie sich mit ihren Kollegen und den Dreißig trafen, wie sie mit ihnen aßen, schwatzten, verhandelten und feilschten, aber das blieben bloße Ahnungen. Bis zu jenem Tag.
Den ganzen Morgen schon standen zerrissene Wolken über der Akropolis, düstere Nebel mit fratzenhaften Gesichtern und verrenkten Gliedern zum Zeichen des Frevels, der an diesem Tag geschehen sollte. Ich war zu Hause und wartete auf den Sonnenuntergang. Plötzlich hörte ich
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