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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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Während er erzählte, stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht: Heute Morgen war er in die Kaserne gegangen, um nachzufragen, ob er vielleicht seine alte Stelle als Schreiber wiederhaben könne. Man schickte ihn zum neuen Hauptmann, der ihn schroff fragte, ob er Athener Bürger oder aber Sklave sei. «Weder das eine noch das andere, Herr», antwortete Myson und gab sich als Metöke zu erkennen, worauf der Hauptmann erklärte, Fremde hätten von heute an nur noch als Sklaven Platz in der Kaserne, und ihn hinauswarf.
    Aber Myson war nicht deswegen so wütend. Was ihn über die Maßen verletzt hatte, war, dass keiner der alten Kameraden auch nur einen Abschiedsgruß andeutete, als sie ihn gehen sahen, und ihn einige sogar auslachten – Männer, mit denen er über Jahre gearbeitet hatte, denen er aus Freundschaft und Gefälligkeit die Briefe geschrieben und vorgelesen hatte, ohne je auch nur eine Kupfermünze verlangt oder das geringste Geschenk erhalten zu haben.
    «Und ist er es?», fragte ich meinen alten Schreiber. «Wer?» Myson verstand nicht, was ich meinte.
«Der neue Hauptmann! Ist er der Soldat mit der Narbe, der
    Lysippos damals gefoltert hat? Du musst ihn damals zusammen mit Anaxos in der Schreibstube gesehen haben!»
    Myson schlug sich vor den Kopf. «Natürlich!», rief er aus. «Daher kannte ich ihn. Ich wusste, ich hatte ihn schon einmal gesehen …»
Nun hatte ich Gewissheit. Es war also richtig gewesen, Aspasia und die Kinder nach Piräus zu bringen! Aspasia war sich sicherer gewesen als ich. Manchmal fühlte ihr weibliches Herz die Gefahr schneller, als ich sie mit meinen männlichen Augen erkannte.
Ich berichtete Myson, was mir der persische Kapitän erzählt hatte. Von heute an werde er sich über gar nichts in der menschlichen Natur mehr wundern, sagte er bitter. Ohnehin käme nur ein Athener auf die Idee, einem anderen Athener zu trauen. Er spuckte verächtlich aus. Ich habe ihn weder früher noch später je so verletzt gesehen. Noch nicht einmal damals, als Lysippos ihn beinahe erwürgt hätte, war er so aufgebracht gewesen.
Ich gab ihm ein wenig Geld, damit er in den nächsten Wochen versorgt wäre – es gab noch genug Silber in jenem Beutel –, und bat ihn, Thrasybulos zu schreiben. Ich wollte, dass er erfuhr, wie es zu unserer Niederlage gekommen war.
    Die nächsten Tage blieben ruhig. Das Leben in der Stadt schien unverändert: In den Tempeln wurde geopfert, auf der Agora gehandelt, in den Stoen geschwatzt, gerade so, wie dies in Athen seit jeher geschah. Von den persischen Bankiers war weder etwas zu hören noch zu sehen. Es sprach sich auch nicht weiter herum, dass sie in der Stadt waren. Offenbar blieben sie doch lieber im Verborgenen. Nur eines fiel mir auf: Die Toxotai patrouillierten weitaus öfter als früher durch die Straßen, viel häufiger, als ich dies in meiner Zeit als Hauptmann für nötig gehalten hatte. Und ihr Verhalten änderte sich. Einmal – es war vielleicht am dritten oder vierten Tag, nachdem ich aus Piräus zurückgekehrt war – sah ich, wie ein kleiner Trupp durch den Kerameikos zog. Es waren fünf Mann. Sie kamen mir mit weiten Schritten entgegen, als ihnen ein alter Mann aus Unachtsamkeit in den Weg trat und den Anführer anrempelte. Der Alte war ein einfacher Händler, der vor seiner Haustür Töpferware feilbot. Er bewegte sich wie jemand, dessen Augenlicht schon beinahe erloschen ist. Jedem musste klar sein, dass er kaum noch richtig sehen konnte. Trotzdem wurde der Toxotes wütend, schlug dem Mann grob ins Gesicht und ließ seine gesamte Ware zertrampeln. Der Alte zeterte und schimpfte, da schlugen sie ihn einfach nieder. Zwei hielten ihn fest, ein Dritter prügelte auf ihn ein, bis er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Zum Glück kam in dem Moment eine junge Frau aus dem Haus. So schnell es ging, zog sie den Alten in den Laden. Lachend zogen die Bogenschützen weiter.
    Das hatte ich in Athen noch nicht erlebt. Sicher, die Toxotai waren Soldaten, und Soldaten sind rau. Sie waren auch zu meiner Zeit nicht zimperlich gewesen, aber sich grundlos an einem alten Mann zu vergehen, das hätte früher keiner von ihnen getan. Was war in sie gefahren? Konnte man das Wesen solcher Männer von einem Tag auf den anderen so verändern? Ich konnte es nicht glauben, und doch hatte ich es eben mit eigenen Augen gesehen. Das waren keine Soldaten mehr, es war eine Schlägertruppe. Und ich fühlte, er war dafür verantwortlich, der Mann, den ich neben Kritias am

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