Mord im Garten des Sokrates
meisten fürchtete: das Narbengesicht.
Aber wie war es Kritias gelungen, sich so schnell mit dem Narbenmann zu verbünden, und welche Rolle hatte Anaxos in diesem Spiel? War der Herr der Spione zu guter Letzt doch zu den Oligarchen übergelaufen, oder hatte sich das Narbengesicht gegen den eigenen Herrn gewandt? Ich wünschte, Thrasybulos wäre hier. Vielleicht waren seine Quellen im Strategion ja noch nicht versiegt und wüssten Antworten auf diese Fragen?
Am nächsten Morgen änderte sich alles. Herolde liefen durch die Stadt und riefen alle Bewohner Athens auf, sich noch am Nachmittag zu versammeln, Vollbürger, Sklaven und Fremde. Jeder waffenfähige Mann sollte sich zur Musterung einfinden. Die Männer wurden aber nicht alle gemeinsam auf die Pnyx bestellt wie bei einer Vollversammlung, sondern an verschiedene Orte in der Stadt. Die Bürger des Kerameikos sollten zum Museion-Hügel gehen, den Metöken wurde befohlen, sich beim Kynosarges zu versammeln. Wie ich von Raios erfuhr, als ich zu ihm ging, um herauszufinden, was es mit dieser Musterung auf sich haben konnte, waren er und die Handwerker seines Viertels zum Areopag bestellt. Was das Ganze sollte, das konnte auch er nicht sagen. Er zuckte mit den Schultern und gab sich gelassen. «Was soll schon sein?», meinte er, aber das erste Mal, seit meine Söhne auf der Welt waren, vergaß er, sich nach ihnen zu erkundigen.
Ich überlegte lange, was ich tun sollte, und entschied mich schließlich, nicht zu dieser ominösen Musterung zu gehen. Ich dachte einfach, es wäre Aspasia lieber, wenn ich keine Risiken einging, auch wenn mich brennend interessierte, was bei diesen Versammlungen herauskommen mochte. Das konnten mir Raios, Myson und die Nachbarn immer noch erzählen.
Ich ging nach Hause zurück. Dort würde ich abwarten. Gegen Mittag ging ich in die Küche, deren Eckfenster zur Straße hin ging. Ich schloss die Läden, damit man mich von draußen nicht sehen konnte. Um selbst auf die Gasse zu schielen, genügte mir der kleine Spalt, den die windschiefen Hölzer offen ließen. Ich schob einen Hocker ans Fenster, setze mich und wartete.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Straße füllte. Meine Nachbarn traten aus ihren Häusern und machten sich auf den Weg. Es war, als zöge eine kleine Prozession an meinem Küchenfenster vorbei. Ich kannte sie alle; es waren die Männer meiner Gegend, tüchtige Handwerker, mutige Männer. Aber an dem Tag waren ihre Gesichter angespannt. Da war keiner, der einen Scherz machte wie sonst, wenn wir gemeinsam auf die Pnyx gingen; keiner ließ eine Amphore zur Ehre des Dionysos kreisen. Sie alle fühlten, dass da etwas nicht in Ordnung war. Trotzdem folgten sie dem Ruf der Dreißig. Ich konnte mir nicht helfen: Sie kamen mir vor wie Kälber, die freiwillig zur Schlachtbank gingen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Aufmarsch an mir vorbeigezogen war. Ein paar versprengte Nachzügler folgten und beeilten sich, Anschluss zu bekommen. Immer dieselben. Dann waren die Straßen leer. Ich blieb auf meinem Hocker sitzen, wartete ab und versuchte abzuschätzen, wo der Pulk der Männer, den ich gesehen hatte, nun etwa sein konnte. Jetzt sollten sie den Dromos kreuzen und weiter in Richtung Schmiede-Viertel gehen. Dort müssten sie der Straße folgen, die zwischen der Pnyx und dem Areopag hindurchführt, weiter ein gutes Stück an der alten Kleonsmauer vorbei – die hatten uns die Spartaner gerade noch gelassen. Sie würden das Metöken-Viertel streifen, um dann endlich am Musen-Hügel anzukommen. Aber was erwartete sie dort?
Es mussten nach meiner Schätzung zwischenzeitlich auch die Nachzügler angekommen sein, als ich auf der Straße Geräusche hörte, ungewohnte Geräusche. Da wurde gebrüllt, an Tore gehämmert, manche aufgebrochen. Ich schielte vorsichtig hinaus, und plötzlich sah ich ihn. Er stand da, inmitten eines Trupps der Bogenschützen, und kommandierte die Männer herum. Es schnürte mir die Kehle zu. Ich konnte nicht atmen, und doch roch ich seinen Gestank.
Was ging da vor sich? Die Bogenschützen drangen in jedes Haus. Wo ihnen die Frauen die Tore nicht freiwillig öffneten, brachen sie die Schlösser auf und hoben die Riegel aus den Angeln. Dann hörte man Lärm. Die Frauen schrien, Metall schlug aneinander. «Schnell, schnell, beeilt euch! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!», brüllte der Hauptmann, das blankgezogene Schwert in der Hand. Die Männer kehrten beladen auf die Straße zurück und warfen das Raubgut
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