Mord im Garten des Sokrates
anderes gefunden haben?»
«Sicher kann er bleiben», sagte ich sofort – Lysias hatte mir damals sehr zu helfen versucht –, fragte Sokrates aber gleichzeitig und ohne darüber nachzudenken, wieso er ihn denn nicht selbst aufnehmen konnte. Sokrates wurde verlegen, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ich bereute meine Frage sofort.
«Xanthippe», antwortete er zaghaft, «du weißt ja, wie sie ist. Sie wollte nicht, dass er bei uns zu Hause bleibt. Sie hatte Angst um die Kinder.»
«Die hätte meine Aspasia auch gehabt», beteuerte ich gleich, obwohl ich sicher war, dass meine Frau einem verletzten Freund die Gastfreundschaft nicht verweigert hätte. Wozu ein Weib einen Mann doch bringen kann, dachte ich bei mir. Wie sagt das Sprichwort? Das Feuer, das Meer und die Frau – drei Worte, ein Übel. Schnell wechselte ich das Thema.
«Lysias braucht einen Arzt. Vielleicht kann Chilon ihn sich ansehen. Kannst du einen Boten nach Piräus schicken?»
«Ja, ich frage einen meiner Schüler», antwortete Sokrates, dem der Themenwechsel mehr als gelegen kam. Sogar bei diesem schlechten Licht sah ich, dass sich seine Gesichtszüge entspannten. Er hatte Angst vor Xanthippe, aber er wollte es sich nicht anmerken lassen. Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn seine Frau ihm ein liebevolleres Heim bereitet hätte, überlegte ich kurz. Vielleicht hätte er dann nicht den lieben langen Tag auf der Agora verbringen müssen.
«Schicke lieber keinen Schüler», sagte ich. «Du weißt um die giftigen Pflanzen in deinem Garten.»
Sokrates schien einen Augenblick irritiert. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, war er wirklich verunsichert. Ich sah, wie sich seine Lippen stumm bewegten, dann antwortete er bestimmt.
«Du hast recht, ich werde einen meiner Söhne bitten.»
Obwohl wir die ganze Zeit über ihn gesprochen hatten, blieb Lysias völlig unbeteiligt. Er hörte uns nicht einmal zu. Noch einmal versuchte ich, ihm die Trinkschale in die Hand zu drücken, aber es gelang mir nicht. Er schloss nicht einmal die Finger um das Gefäß. Aber ich musste ihn irgendwie ins Leben zurückholen. Also stand ich auf, um ihm den Wein eigenhändig einzuflößen. Unmerklich trank er ein oder zwei kleine Schlucke. Das war gut, das war ein Anfang. Sokrates sah aufmerksam zu und reichte mir ein Stück Brot. Ich brach ein winziges Stück und führte es an Lysias’ Mund. Zaghaft öffnete er die Lippen und nahm es an.
«Ich sehe, mein guter Geist hatte recht, als er mich hieß, Lysias zu dir zu bringen», flüsterte Sokrates, und ich sah, wie er sich über jede Regung freute, die Lysias zeigte.
Es war spät. Sokrates musste gehen, versprach aber, gleich morgen nach Chilon zu schicken und abends wiederzukommen. Den Tag wollte er nutzen, um in Erfahrung zu bringen, was Lysias geschehen sein konnte. Ich brachte ihn zum Tor und verabschiedete ihn. Die Nacht war noch warm und roch nach Sommer, war aber finster, wie nur eine Neumondnacht es sein kann. Der Mond stand schmal und bleich wie eine Schwertklinge am Himmel.
Leise schloss und verriegelte ich das Tor. Zum Glück hatte ich den Riegel erst gestern gefettet. Dann ging ich zu Lysias zurück. Ich fand ihn schlafend auf der Liege. Er sah aus, als wäre er einfach nur zur Seite gekippt. Immerhin, er schlief, und Schlaf, mehr noch als die Zeit, heilt die Wunden unserer Seele.
Ich beschloss, die Nacht über bei Lysias zu bleiben. Ich holte zwei Decken aus meinem Versteck und stellte die Liegen nebeneinander, um sofort wach zu werden, falls Lysias Hilfe brauchte. Als mein Bett gerichtet war, deckte ich Lysias zu. Ich war sicher, er hatte etwas Furchtbares erleben müssen. Sein Gesicht zuckte unruhig im Schlaf, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Ich trocknete sie mit einem Tuch. Lysias’ Atem ging schnell und flach. Da hörte ich ein Geräusch, zuerst unmerklich. Leise und verhalten kam es an mein Ohr. Es erinnerte mich an etwas, ich konnte aber erst nicht ausmachen, was es war. Ich musste leise sein und durfte selbst kaum atmen, wenn ich es erkennen wollte. Ganz still blieb ich neben Lysias sitzen. Dann war es da: ein leichtes Pfeifen, das aus Lysias’ Nase drang, nicht anders als bei meinem Sohn, wenn er ein wenig verschnupft war. Und da fiel es mir ein. Eine Neumondnacht im Sommer: Bald jährte sich Perianders Tod.
Ich blieb noch lange im Licht der Öllampe sitzen. Niemand leistete mir Gesellschaft in der Finsternis meiner Gedanken. Lysias stöhnte von Zeit zu Zeit auf und warf sich im Schlaf
Weitere Kostenlose Bücher