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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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dauernd wegzuspringen. Ich ahnte, was sie da wegbringen wollten. Noch ehe ich in den Wagen sehen konnte, fühlte ich es. Das also war das Unterpfand, das Kritias und seine Verschwörer den Persern versprochen hatten, damit sie Sparta mit dieser riesigen Flotte ausrüsteten; das war der Lohn für die Perser und der Preis, den sie für die Macht über die Stadt zu zahlen bereit gewesen waren: unseren Kriegschatz, unser wertvollstes Heiligtum! Sie haben ihn verkauft. In dem Wagen lag der Athene Parthenos goldener Mantel!
Die Athener, die sahen, was da fortgeschleppt wurde, verstummten. Viele knieten hin und senkten die Köpfe vor Scham und Schande. Es war, als hätte vor unseren Augen ein Sohn die eigene Mutter zur Schändung feilgeboten. Und er stand dabei, grob lachend und laut.
    nach dem raub des goldenen Mantels zogen die Spartaner ab und überließen uns unserem Schicksal. Der Krieg war zu Ende, aber in unseren Herzen konnte keine Freude mehr aufkommen. Die Stadt war besiegt, die Mauern geschleift, die Demokratie gestürzt, die Bürger entwaffnet, unsere Göttin entkleidet – konnte noch etwas Schlimmeres geschehen? Gab es noch ein Unglück, das auf uns wartete?
    Es gab nur wenige Menschen, die wussten, dass ich in Athen geblieben war und mich im eigenen Haus verborgen hielt. Einer von ihnen war Sokrates. Eines Nachts – es waren seit dem Abzug der Spartaner einige Wochen vergangen, wir schrieben schon den Monat Thargelion – klopfte er vorsichtig an mein Küchenfenster.
    «Nikomachos, lass mich rein. Ich bin es, Sokrates», flüsterte die mir wohlbekannte Stimme des Freundes. Ich saß im Dunkeln und aß. Seit dem Raub der Waffen hatte ich im Haus kein Licht mehr angemacht.
    «Komm ans Tor», antwortete ich und ging so schnell und leise wie möglich in den Garten, um ihm zu öffnen. Ich zog den Riegel zurück und ließ ihn hinein. Plötzlich erschien der Schatten eines zweiten Mannes hinter ihm. Ich erschrak.
    «Keine Angst, es ist Lysias», flüsterte Sokrates beruhigend. «Wir brauchen deine Hilfe.»
Ich führte die beiden ins Haus und brachte sie in das hintere, große Zimmer. Es lag am weitesten von der Straße entfernt. Hier konnten wir sicher sein, von niemandem gehört oder gesehen zu werden. Ich entzündete sogar eine kleine Lampe. Was ich im Schein ihrer bescheidenen Flamme erblickte, machte mich schaudern.
«Um Himmels willen!», stieß ich hervor. Lysias war kaum wiederzuerkennen. Seine Züge schienen versteinert. Zwei tiefe, blutige Striemen liefen über sein Gesicht, zwei über die Schulter. Anstelle seiner sonst so ausgesuchten Gewänder trug er einen einfachen, leicht verschlissenen Wollmantel.
«Was ist denn bloß geschehen?», fragte ich und nötigte Lysias, sich zu setzen. Er antwortete nicht. Seine Augen blieben weit aufgerissen und starr.
«Wartet», bat ich meine Freunde und eilte in die Küche, wo ich Wein und einige Speisen zusammentrug. Als ich mit einem Tablett in das hintere Zimmer zurückkam, fand ich Lysias in der gleichen Stellung, in der ich ihn zurückgelassen hatte. Er hatte sich nicht gerührt. Er schien leblos wie eine Statue. Sokrates saß neben ihm auf der Liege und betrachtete ihn besorgt.
«Bedient euch», bat ich meine Gäste, nachdem ich das Servierbrett auf ein Tischchen gestellt hatte. Ich versuchte, möglichst fröhlich und unbefangen zu klingen. Obwohl ich ein wenig zitterte, schenkte ich ein und reichte Lysias eine Trinkschale. Ich lächelte und nickte ihm zu, um ihn zum Trinken zu ermuntern. Aber Lysias bewegte sich nicht. Er nahm mir noch nicht einmal den Becher aus der Hand. Das Licht der kleinen Lampe warf unruhige Bilder auf sein erstarrtes Gesicht; er aber blieb völlig regungslos.
«Was ist geschehen?», fragte ich Sokrates.
«Ich weiß es nicht», antwortete er und ließ Lysias nicht aus den Augen. «Ich habe ihn heute Mittag vor meinem Haus gefunden. Er hat geblutet. Ich habe ihn ins Haus gebracht, gewaschen und ihm einen Mantel gegeben. Er hat kein Wort gesprochen, die ganze Zeit über nicht. Nachdem ich ihn halbwegs versorgt und verarztet hatte, wollte ich ihn nach Hause bringen. Aber das ließ er nicht zu. Er wurde rasend. Er schrie, raufte sich die Haare und schlug um sich. Dabei rief er immerzu nach seinem Bruder. Er beruhigte sich erst, als ich versprach, ihn nicht zurückzubringen. Aber bei mir konnte er nicht bleiben. Da habe ich gleich an dich gedacht. Meinst du, du kannst ihn für ein paar Tage aufnehmen? Bis es ihm besser geht oder wir etwas

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