Mord im Garten des Sokrates
und ich schweigend am Tisch in der abgedunkelten Küche, während von der Straße her die Geräusche der Stadt hereindrangen, einer Stadt, die ihr Tagwerk begann. Ein Obstverkäufer schob seinen Karren und pries sein Frühobst an. Kinder tollten mit einem Hund durch die Gasse und gaben dem armen Tier mitleidlos Befehl um Befehl. In der Küche indessen wurde die Stille drückend und ließ das Leben, das von der Straße kam, unwirklich erscheinen. Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam. Ich musste einfach etwas sagen, um nicht an dieser Stille zu ersticken und um Lysias zum Sprechen zu bringen. Ich griff einfach nach einem Fetzen meiner Erinnerung. «Kritias war doch Sokrates’ Schüler, nicht wahr?», begann ich beinahe zufällig. Lysias horchte auf und nickte. «Weißt du, wieso sie sich überworfen haben?» Lysias stellte seinen Becher weg und legte die Hände vor sein Gesicht. Als er mich wieder ansah, schien er unendlich müde. «Ich weiß nicht, ob ich es dir erzählen darf», sagte er. «Es wä re besser, wenn Sokrates dir diese Frage beantwortete würde, aber er spricht nicht mehr über die damalige Zeit. Andererseits stehe ich in deiner Schuld und denke, du solltest es wissen …» Ich war erstaunt über diese umständliche Einleitung, hatte ich doch kaum erwartet, dass sich hinter dem Zerwürfnis der beiden ein großes Geheimnis verbergen könne. So aber war es. Lysias zögerte noch einen Augenblick, dann berichtete er, erzählte in jener klaren und einfachen Art, die ihm eigen war, eine Geschichte von Eifersucht und Verrat, in deren Mittelpunkt kein anderer als Kritias stehen konnte. Und so erfuhr ich, dass auch Sokrates einst liebte, den schönsten Jüngling, den Attika je gesehen hat: Alkibiades, Perikles’ Neffen und Sokrates’ Schüler. Ob diese Liebe körperlich wurde, ob Sokrates, der keusche Satyr, diesen Jüngling von apollinischer Schönheit je küsste, wusste niemand genau. Alkibiades selbst – freizügig in diesen Dingen, wie man weiß – berichtete wohl einmal bei einem Gelage, wie er versucht hatte, Sokrates zu verführen; wie er nackt mit ihm gerungen und sich dann erschöpft neben ihn gelegt hatte – vergeblich. Der kluge Alte blieb vor allem sich selbst treu und ließ sich auch von diesem jungen und unvergleichlich schönen Körper nicht in Versuchung bringen. Aber wenn Sokrates Alkibiades’ Leib auch verschmähte, liebte er ihn doch. Daran bestand gar kein Zweifel, und täglich ruhte sein liebevoller Blick auf ihm. «Warum huldigest du, heiliger Sokrates, diesem Jünglinge stets?», begann Lysias die erste Zeile eines alten Gesanges, den ich selbst wohl schon einmal gehört hatte. Dann betrachtete er mich einen Augenblick mit dem Lächeln der Wehmut – auch für ihn waren viele Jahre vergangen seit damals – und fuhr fort. Zusammen mit Alkibiades war Kritias seinerzeit Sokrates’ Schüler, und je offensichtlicher wurde, welche Zuneigung Sokrates und Alkibiades verband, desto mehr entbrannte Kritias in Eifersucht. In einer doppelten Eifersucht, wie man sagen muss, ging es ihm doch nicht nur um einen, den er selbst gerne besessen hätte. Kritias war eifersüchtig auf beide zugleich und missgönnte ihnen die Liebe des jeweils anderen, Sokrates die Schönheit, die er empfing, und Alkibiades den Geist, der um ihn warb. «Was geschah dann?», fragte ich während einer Kunstpause, die Lysias, Redner, der er nun einmal war, einzulegen nicht lassen konnte. Wieder sah er mich traurig an, und sein Blick war ganz klar dabei. «Du kannst dir nicht vorstellen, was er tat?», fragte er. Ich verneinte. Lysias legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er schien seine Erinnerung und seine Worte von weither zu holen. «Er schwor Rache und wartete auf eine Gelegenheit, um Lehrer und Schüler für immer zu trennen», fuhr er fort. «Er wartete zehn Jahre lang, zehn Jahre, während derer Alkibiades immer berühmter und erfolgreicher wurde, was Neid und Hass in Kritias’ Seele ständig neue Nahrung gab. Ich bin sicher, du kannst dich selbst noch gut erinnern: Alkibiades hatte einen erfolgreichen Feldzug beendet. Er war ein wenig älter als dreißig, die Liebe zwischen ihm und Sokrates war der Freundschaft gewichen, aber sie standen sich noch nah. Alkibiades wurde damals zum ersten Mal zum Strategen gewählt – ein weiterer Stachel in Kritias’ Fleisch, wie du dir denken kannst, hatte der sich doch schon lange heimlich Hoffnungen auf das Amt gemacht … Alkibiades war damals ungestüm und
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