Mord im Garten des Sokrates
herum. Einmal rief er nach seinem Bruder.
Wie war das noch? Ein Mann zeigt den eigenen Vater an, weil der einen Sklaven erschlagen hat. Richtig, das war die Geschichte, die Sokrates erzählt hatte, als wir uns zum ersten Mal sahen. Die Frage war, was höher zu achten sei, die Treue zur Familie oder die Gesetze der Stadt. Wie hatte sich Periander noch entschieden? Ich wusste es nicht mehr. Ich musste Sokrates danach fragen. Wie würde ich selbst mich wohl entscheiden?
Irgendwann, als das Öl in der Lampe und der Wein in der Karaffe zur Neige gingen, suchte auch ich ein wenig Schlaf, fand ihn aber kaum. Die Nacht war unruhig, Lysias träumte, stöhnte und rief wieder nach Polemarchos. Trotzdem fühlte ich mich auf eine eigentümliche Art gelöst, beinahe heiter. Das kleine Pfeifen aus Lysias’ Nase hatte mich an ein Versprechen erinnert, das ich mir selbst gegeben hatte, und ich war entschlossen, es einzulösen.
Ich schreckte hoch aus einem traumlosen Schlaf und fand Lysias neben mir sitzen. Der Morgen dämmerte, es wurde allmählich hell. Das Zimmer lag in grauem Licht. Die Lampe stand erloschen auf dem Schemel neben meiner Liege.«Ich wollte dich nicht wecken», sagte Lysias. Ich war sofort hellwach. «Du sprichst, was für ein Glück!», sprudelte es unbedacht aus mir heraus, obwohl mein Mund vom Wein trocken und mein Zunge noch träge war. «Was war gestern mit dir? Kannst du dich an irgendetwas erinnern?» Lysias sah mich traurig an. «Ich kann mich an alles erinnern», antwortete er, «an alles.» «Was ist denn passiert?», fragte ich. Lysias starrte zur Seite. Er antwortete nicht. Ich sah, wie er zu zittern begann. «Schon gut», versuchte ich ihn zu beruhigen, richtete mich auf und legte den Arm um ihn. Das ließ die Dämme seines Widerstands endgültig brechen. Es war, als lösten sich Sturzbäche aus den Wolken, so begann Lysias mit einem Mal zu schluchzen und zu weinen. Wie ein Kind drängte er sich an meine Brust. Rotz und Wasser liefen mir über das Gewand, aber mir war klar, dieser Ausbruch würde ihn der Heilung näher bringen als das Schweigen, das sein Herz gestern noch so eisern umklammert hatte. Es dauerte lange, bis Lysias sich beruhigen konnte. Als er zu weinen aufgehört hatte, waren sein Gesicht und seine Augen rot verquollen und nass, beinahe entmenschlicht. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme versagte. Ich brachte ihm einen Bottich mit Wasser und ließ ihn allein, damit er sich waschen und wieder zu sich kommen konnte. Dann ging ich in die Küche und bereitete uns ein kleines Frühstück. Der Tag versprach heiß zu werden. Auch in diesem Jahr würde es einen heißen Sommer geben. Da sprang die Tür auf. Für einen Augenblick sah ich Lykon vor mir, wie er hereinstürmte, um mich zu Alkibiades zu bringen, aber die Erinnerung und meine geblendeten Augen hielten mich zum Narren. Es war Lysias. Er suchte nach mir. Hinter ihm schien die Sonne zur Tür herein. Das Grau des frühen Morgens war dem gleißenden Weiß der Sommersonne gewichen. «Komm herein», bat ich, «ich hoffe, es macht dir nichts aus, hier in der Küche zu frühstücken.» «Nein, natürlich nicht», antwortete er mit einer Stimme, die immer noch leicht zitterte, und setzte sich an den kleinen Küchentisch. Er hatte sich gewaschen und frisiert, aber sein Gesicht und seine Augen blieben geschwollen. «Als ich hereinkam, hast du mich angesehen, als wäre ich ein Gespenst», sagte er. «Sehe ich so furchtbar aus?» «Nein, du siehst gar nicht furchtbar aus», schwindelte ich und stellte ein Fladenbrot auf den Tisch. «Meine Augen haben mir einen Streich gespielt. Für einen Moment habe ich dich für einen anderen gehalten. Ich habe gestern Abend zu viel getrunken.» Lysias nickte und goss Wasser in unsere Becher. Ich wagte nicht, ihn noch einmal zu fragen, was ihm gestern widerfahren sei. Wenn er es mir erzählen wollte, dann würde er es tun, ohne dass ich weiter in ihn drang. Ich aß mit Appetit. Lysias dagegen rührte das Frühstück kaum an. Er versuchte ein Stück Fladenbrot, nahm aber nur einen winzigen Bissen, auf dem er lustlos herumkaute. Sein Blick war leer. Er hielt einen Becher Wasser in der Hand und trank von Zeit zu Zeit einen kleinen Schluck. Dabei machte er keine Anstalten, etwas zu sagen. Ich fürchtete, seinem Bruder könne etwas geschehen sein, wagte aber nicht, mich nach ihm zu erkundigen. Lysias und Polemarchos standen sich nahe. Das wusste ich seit unserem ersten gemeinsamen Treffen. Und so saßen Lysias
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