Mord im Garten des Sokrates
noch ehrgeiziger, als du ihn kennst. Er überzeugte die Athener, gegen Sizilien zu ziehen, und wollte die Flotte selbst führen. In der Nacht, bevor er in See stach, geschah etwas ganz Unerhörtes …» «Die Hermesstatuen auf der Agora wurden zerschlagen», sagte ich trocken. «So ist es», bestätigte er, «und um es genau zu sagen: Sie wurden kastriert …» «Der Hermen-Frevel!» «Der Hermen-Frevel», wiederholte Lysias, während sich das Mosaik der Ereignisse vor meinem inneren Auge zu einem Bild fügte. «Ich war sicher, du würdest dich erinnern. Alkibiades ging in aller Frühe an Bord des Flaggschiffes und ließ die Segel setzen. Er konnte nicht wissen, was in der Nacht zuvor geschehen war. Trotzdem war die Empörung groß, weil der Stratege Athen an einem Tag verlassen hatte, an dem die Götter so beleidigt worden waren. Abergläubisch, wie sie sind, fürchteten die Leute das böse Omen. Ein paar Tage später kam dann das Gerücht auf, Alkibiades selbst habe den Statuen Gewalt angetan. Es hieß, er und ein paar seiner Freunde hätten sich am Abend vor der Expedition sinnlos betrunken und seien anschließend grölend über die Agora gezogen, um die Götterbilder zu schänden. Zunehmend fanden sich auch Zeugen für den Vorfall – keiner hatte wirklich etwas gesehen, aber jeder behauptete, er habe einen zuverlässigen Freund, der Alkibiades erkannt habe. Ehe man sichs versah, erhob jemand Anklage gegen den jungen Strategen. Religionsfrevel warf man ihm vor. Der Prozess wurde in seiner Abwesenheit verhandelt, Alkibiades fast einstimmig zum Tode verurteilt. Weder Sokrates noch ich konnten es verhindern. Als Alkibiades von dem Todesurteil erfuhr, weigerte er sich, zurückzukehren, obwohl Sokrates ihn beschwor, sich einem neuen Prozess zu stellen. Er floh nach Sparta. Dort empfing man ihn mit offenen Armen. Welchen besseren Verbündeten gegen Athen hätten sich die Spartaner vorstellen können als Perikles’ Neffen? Den Rest der Geschichte kennst du selbst. Alkibiades blieb der Stadt über zehn Jahre fern. Er und Sokrates haben sich nicht wiedergesehen. Als Alkibiades endlich zurückkehrte, waren die beiden sich fremd.» «Wer war der Ankläger, der Alkibiades das angetan hat?», fragte ich. «Ich weiß es nicht mehr.»
«Ein gewisser Ademantos,» antwortete Lysias, in dessen Augen ein eigentümliches Funkeln trat. «Aber der ist völlig unbedeutend. Entscheidend ist, wer hinter ihm stand.»
«Kritias!», sagte ich bestimmt.
Lysias hob die Hände. «Kritias,» wiederholte er, «aber das ist noch nicht alles. Weißt du, er hat nicht einfach nur eine Gelegenheit ergriffen, um sich zu rächen und einen Rivalen wie Alkibiades für immer zu vertreiben. Mehr noch: Er hat von Anfang bis Ende alles geplant und ins Werk gesetzt.» «Wie meinst du das? Ich verstehe nicht.» «Oh, es ist ganz einfach», antwortete Lysias geduldig. «Er hat Alkibiades auf die Idee gebracht, gegen Sizilien zu ziehen – sie kannten sich ja lange –, und er war es, der in der Nacht vor der Abfahrt die Statuen hat schänden lassen! Er allein ist für den Hermen-Frevel verantwortlich, er allein. Zu guter Letzt hat er dafür gesorgt, dass alle Welt Alkibiades verdächtigte.» Lysias stellte den Becher auf den Tisch, stand auf und ging zum Fenster. Er machte keine Anstalten, weiterzusprechen. Er schien ans Ende seiner Geschichte gelangt zu sein. «Wie kannst du sicher sein, dass Kritias alles geplant hat?», fragte ich nach einer ganzen Weile, während der Lysias nur zu den Ritzen hinausgespäht und auf die Straße gesehen hatte. Lysias drehte sich um. «Dafür gibt es die einfachste Antwort der Welt. Sokrates hat ihn zur Rede gestellt, und eitel, wie Kritias ist, hat er es zugegeben, weil er meinte, damit beweise er seinen überlegenen Verstand. Er hat Sokrates sogar noch gewarnt, sich weiter einzumischen. Sokrates hat es mir am gleichen Abend noch erzählt. ‹Ich warne dich, Sokrates, wenn du etwas gegen mich unternimmst, werde ich leugnen, überhaupt mit dir gesprochen zu haben … Für dich ist das Ganze zu groß und zu gefährlich.›» Lysias musste bemerkt haben, dass ich bei diesen Worten aufhorchte. «Ja, ich weiß schon», sagte er, «diese Worte sind dir nicht fremd …» «Woher weißt du?», fragte ich. «Sokrates hat mir von deiner Begegnung mit Lykon erzählt,» antwortete er schlicht. Lysias setzte sich wieder an den kleinen Tisch. Aus seinem Gesicht war die Spannung gewichen. Er war müde, alt und traurig. Was immer ihm
Weitere Kostenlose Bücher