Mord im Garten des Sokrates
Garten ging, wo eine alte Sklavin in der prallen Sonne ein Beet umgraben musste, dachte ich darüber nach, was Kritias seinem Vetter sagen würde, wenn der ihm gestand, was er mir verraten hatte … Würde Kritias seinen kalten Hochmut verlieren und dem nichtsnutzigen Vetter sämtliche noch intakten Weinkrüge hinterherwerfen, die er noch fand? Die Vorstellung war so schön, dass ich darüber sogar meine schmerzenden Rippen vergaß. Ich ging lachend weiter.
Aristokles’ oder Platons Haus war nur ein paar Straßen vom Anwesen seines Onkels Charmides entfernt. Ich fand es mühelos, denn Sokrates hatte mir den Weg gestern noch gezeigt, bevor wir uns verabschiedet hatten. Platon lebte allein mit zwei Sklaven in einer einstöckigen Villa, einem anmutigen kleinen Marmorbau, im Tal zwischen der Akropolis und dem Hügel Pnyx. Ich klopfte an das große Holztor, das wie bei den meisten Athener Häusern zum Innenhof des Anwesens führte, und musste zu meiner Enttäuschung von einem der Haussklaven erfahren, dass der junge Herr das Haus schon sehr früh verlassen hatte. Er sei zu einem Hain hinausgeritten, der ihm gehöre, ein wenig außerhalb der Stadt.
Ich ließ mir den Weg zu dem Grundstück sehr genau beschreiben und lief zurück zur Kaserne, um mein Pferd zu satteln. Auf dem Kasernenhof traf ich Myson. Er schien schon den ganzen Morgen auf mich gewartet zu haben. Er war aufgeregt, beinahe außer Atem, und dies mit gutem Grund. Es gab einen ersten kleinen Erfolg. Die Männer, die sich bei den Anwohnern des Itonia-Tores umhörten, waren auf eine alte Wäscherin gestoßen, die gerade neben dem Tor wohnte und vorgestern Nacht einen Streit gehört hatte. Myson hatte heute Morgen davon erfahren und war gleich zu ihr gegangen, um sie in ihrem armseligen Zimmerchen zu besuchen. Sie lebte in einem Kellerraum gleich neben dem Tor: ein altes, runzeliges Weib ohne Mann und Kinder; Zähne hatte sie kaum mehr im Mund, aber immerhin schien sie noch ihre fünf Sinne beisammen zu haben, wie Myson sagte. Froh darüber, dass überhaupt wieder jemand mit ihr sprach und zuhörte, berichtete sie Myson den gesamten Vorfall ganz genau, und er gab ihn mir ebenso genau wieder: Sie habe, so sei eben das Alter, vorgestern wegen der Hitze nicht schlafen können und sich die halbe Nacht nur auf ihren Strohmatten gewälzt. Vor und zurück ging dies, so lange, bis das Stroh ganz niedergedrückt war und auch noch feucht von ihrem Schweiß. Da sei sie aufgestanden, habe einen Becher Wasser getrunken und sich an ihr kleines Fensterchen gestellt, das gerade auf den Platz zwischen dem Itonia-Tor und dem Zollhaus hinausgeht. Lustig sei es dort am Tag, wenn die Athener ihren Geschäften nachgehen und man aus dem Kellerfenster nur Beine und Hüften vorbeihuschen sieht. Die Luft war stickig, kaum habe sie richtig schnaufen können. Irgendwann habe sie gehört, wie sich zwei Männer dem Platz vor dem Tor näherten und miteinander stritten. «Hat sie verstehen können, was die Männer sagten?», unterbrach ich Myson ungeduldig.
Myson schüttelte den Kopf und fuhr fort. Immer lauter sei es zugegangen, und sie habe schon gedacht, gleich würde einer der Nachbarn seinen Kopf aus einer Luke stecken, um die dringend nötige Nachtruhe einzufordern, da gab es einen Schlag. Dumpf war er, dumpf und heftig. Damit war der Streit vorbei. Anschließend habe sie nur noch eine Stimme gehört, leise, beinahe flüsternd. Am Ende sei aber auch die verstummt.
«Was war das für ein Schlag?», fragte ich Myson. Eben das habe er die Wäscherin auch gefragt, meinte Myson.
Aber gerade darauf wusste sie keine sichere Antwort. Sie habe etwas dumpf aufschlagen hören, aber was das war und woher es rührte, das wusste die Wäscherin nicht.
«Und was war das Flüstern?», wollte ich wissen. Myson zuckte die Schultern. Auch dazu habe die Alte nichts Genaueres sagen können. Ein Flüstern eben, vielleicht auch ein Röcheln, aber sicher, nein, sicher war sie sich dessen nicht gewesen. «Gesehen hat sie nichts?», fragte ich.
«Nein, gesehen hat sie nichts», antwortete Myson. «Das konnte sie auch nicht. Sie sieht schon bei Tag nicht mehr viel, und bei Nacht ist sie fast blind.»
«Was ist mit den Nachbarn? Hat sonst niemand etwas von dem Streit mitbekommen?», fragte ich, obwohl ich die Antwort beinahe schon kannte.
«Du weißt doch, wie die Athener sind», entgegnete Myson resigniert, «die sind nicht nur blind, sondern auch noch taub und stumm …»
Ich dankte Myson und ging in den Stall,
Weitere Kostenlose Bücher