Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
Vom Netzwerk:
Feststellung. Platon blieb still und schlug die Augen nieder. Auch ich schwieg einen Augenblick. Ich sah nach der Felsengruppe hin, die vor uns stand. Gleich neben der Quelle blühten wilde Lilien – Todesblumen.
«Sokrates sagt, der Mensch habe eine unsterbliche Seele. Glaubst du nicht daran?», fragte ich, um ihn zu trösten. «Doch», antwortete er, «daran glaube ich, und ich bin sicher, Perianders Seele ist jetzt glücklicher, als sie es hier war. Aber …» Platon verstummte. Seine Augen lösten sich von mir, und wie versunken sah auch er zu den Lilien hinüber. «Aber?», ermunterte ich ihn fortzufahren.
«Ich will dich nicht langweilen», sagte Platon mit dünner Stimme. Er lispelte ein wenig. Erst jetzt fiel es mir auf. «Du langweilst mich nicht», versicherte ich und konnte mich nicht dagegen wehren, Achtung dafür zu empfinden, wie Platon seine Trauer zeigte.
«Es gibt eine alte Legende», begann er zögernd und so leise, dass ich ihn kaum hören konnte, «danach sind wir Menschen kein Ganzes, sondern nur die Hälfte eines Ganzen, eines alten Doppelwesens, das in grauer Vorzeit gelebt hat. Die Wesen hatten vier Beine, vier Arme und zwei Gesichter unter einem einzigen Schädel. Das eine sah nach vorne, das andere nach hinten.
Sie gingen aufrecht, wie sie wollten, vorwärts oder rückwärts. Mussten sie schnell laufen, schlugen sie das Rad über Arme und Beine. Mächtig waren diese Doppelmenschen und stark, so mächtig, dass sie die Götter herausforderten und den Olymp bestürmten. Dafür wurden sie von Zeus bestraft. Er trennte die beiden Hälften für immer. Sie irren nun allein umher. An manchen Tagen ist Zeus gnädig, dann finden sich zwei Hälften wieder und erleben das vollkommene Glück. Wer die zweite Hälfte indessen nicht findet, bleibt verurteilt, sie ewig zu suchen. Wer …» Wieder wollte er nicht weitersprechen, oder er konnte es vielleicht auch nicht. Erschöpft schwieg er. «Ja?», sagte ich.
«Wer sie verliert, der bleibt für immer allein.»
Ich blieb still, Platon wandte den Blick ab und sah zur Seite. Seine Hände waren so ineinander verkrampft, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein gesamter Körper bebte. Ich stand auf und ging zur Quelle. Ein leichter Wind kam auf und spielte in den Baumkronen. Die Sonne blinkte durch die Blätter. Das Wasser war klar wie die Luft. In diesem Bach war jeder Kiesel deutlich zu sehen, unverborgen. Es war ein verzauberter Ort, an dem wir uns hier befanden.
«Entschuldige, wenn ich das fragen muss», wandte ich mich wieder an Platon, «aber wo bist du vorgestern Nacht gewesen?» «Ich war hier», antwortete er.
«Allein?»
«Ja, allein.»
«Was hast du getan?»
«Ich habe gearbeitet – geschrieben, die halbe Nacht …», antwortete Platon leise, «und ich war nicht bei ihm, als er mich
brauchte.»
Ich ging zu Ariadne und nahm die Schriftrolle aus der Satteltasche. Platon blieb sitzen. Ich wusste, ohne ihn zu sehen, dass er wieder gegen die Tränen kämpfte. Dann ging ich zurück und reichte ihm den Papyrus. «Kennst du das?», fragte ich.
Platon rollte das Blatt auf und überflog es. Ich hatte nicht den Eindruck, er würde es wirklich lesen. Schnell wickelte er es wieder zusammen und gab es mir zurück.
«Nein», sagte er knapp.
«Nein?», fragte ich ungläubig. «Sokrates kannte es.» Platon Gesicht verhärtete sich. Er versuchte, gleichgültig zu scheinen, und zuckte mit den Schultern. Hier verbarg sich etwas. «Periander hatte es ihm gegeben – das ganze Buch, meine ich», fuhr ich fort und beobachtete Platon genau. Sein Körper zitterte wieder leicht, aber seine Miene blieb versteinert. «Ich kenne es nicht», sagte er, ohne mir in die Augen zu sehen. Ich glaubte ihm nicht. Er wusste mehr über dieses Buch, als er mir sagen wollte! Aber was konnte ich tun? Ich entschied mich, ihm die Wahrheit zu sagen.
«Weißt du, woher ich diese Seite habe?», fragte ich. «Ich meine das Original, nicht diese Kopie?»
«Nein», antwortete er, das Gesicht so starr und den Körper so verkrampft, als wäre er der schlangenhäuptigen Gorgo selbst begegnet.
«Ich habe das Blatt im Rachen deines Geliebten gefunden. Er ist daran erstickt!»
Es ist schwer zu beschreiben, was mit Platon in diesem Augenblick geschah. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht, es verlor alle Farbe. Gleichzeitig verdrehte er die Augen, bis nur noch seine weißen Augäpfel zu sehen waren, die blind ins Leere starrten. Platon begann zu zittern, als hätte er Schüttelfrost.
Zuckend sackte sein

Weitere Kostenlose Bücher