Mord im Garten des Sokrates
um Ariadne zu satteln. Immerhin, wir waren ein Schrittchen weiter; einige Steinchen hielt ich schon in meiner Hand, um das Mosaik zusammenzusetzen, das mir ein Porträt des Mörders liefern sollte. Als ich aufsaß, spürte ich einen stechenden Schmerz in der Seite, und jäh entflammte in mir der Zorn auf die Männer, die mich gestern überfallen hatten. Für einen Moment sah ich auch Charmides wieder vor mir. Hatte er nicht für einen Augenblick gelächelt, als ich mir an die Rippen fasste? Ich ritt im ruhigen Trab an der Agora vorbei auf den Dromos. So heißt die Straße, die Sokrates und ich gestern gemeinsam in entgegengesetzter Richtung gegangen waren. Ich musste die Stadt verlassen, um zu dem Hain zu kommen, den Platons Haussklave mir beschrieben hatte. Der Weg führt durch das Kerameikos, das Tor Dipylon und dann über den großen Friedhof außerhalb der Stadt. Dort gabelt er sich. Linker Hand verlief die heilige Straße, rechter Hand erwartete ich das Grundstück zu finden, zu dem Platon in aller Frühe aufgebrochen war. Die sommerliche Panathenäen-Prozession, Athens wichtigstes Fest, nimmt diesen Weg, um die Schutzgöttin der Stadt zu ehren. Schon in wenigen Wochen würden die Jungfrauen und in ihrem Gefolge halb Athen mit den Heiligtümern aus Eleusis über den Dromos zur Akropolis hin ziehen.
Die Wache am Dipylon-Tor grüßte mich. Hätte in jener Nacht auch nur ein Soldat am Itonia-Tor gestanden! Periander wäre vielleicht noch am Leben und würde nicht bald im Schatten der Stadtmauer auf der großen Nekropole liegen, über die die Straße mich nun führte; er würde weiter Siege für seine Stadt erringen und die Herzen seines Vaters und seiner Mutter wären nicht gebrochen. Ich bekam Angst. Was war nur der Tod, jener schwarze Gott, der das Licht eines jeden Hauses verdunkelt und den endgültigen Abschied befiehlt? Grabmonumente standen stumm und zahllos in der Sonne: prächtige Marmorreliefs, Statuen und Gedenksteine, auf denen sich die Eidechsen aalten – in Stein gemeißelte Zeugnisse des Todes, der hier allgegenwärtig war. Von hier aus würde Periander bald seinen letzten Weg in den Hades gehen. Prächtige Grabbeilagen würde man ihm geben: Duftlampen gegen die Dunkelheit und den Geruch der Verwesung, Brot und Wein gegen Hunger und Durst, Schwert und Schild gegen die Feinde und eine Silbermünze auf der Zunge, damit Charon bezahlt werden konnte, der Fährmann, der die Toten über den Fluss bringt. Und dann? Unter einem dieser Steine lag auch meine Mutter. Vor fünf Jahren hatten wir sie hierher gebracht. Ich erinnerte mich genau. Bild für Bild erstand vor mir, jeden Schritt mit der Last ihres Leichnams auf der Schulter fühlte ich. Es war ein kühler Wintermorgen. Wir trugen sie auf einer Holzbahre. Mein Vater, Raios, Janos und ich hatten sie geschultert. Die Holme der Totenbahre drückten mir ins Fleisch. Aspasia und die Kinder liefen hinter uns. Es folgten Vettern, Nachbarn, Freunde …
Nebel lag an jenem Tag über den Gräbern. Die Sonne stand blass hinter den Wolken.
Noch die Erinnerung machte mich schaudern. Ich fror bei größter Hitze. Reiß dich zusammen, befahl ich mir. Fort jetzt von diesem Friedhof und seinen Gespenstern! Morgen würde ich Anaxos einen ersten Bericht erstatten müssen. Was wusste ich? Periander war grausam gestorben, erstickt von einem wütenden Mörder, einen Papyrus im Rachen. Es hatte einen Streit gegeben. Der Mord war vermutlich da geschehen, wo man auch die Leiche gefunden hatte. Selbst ein Aristokrat, stand Periander in regem Kontakt zu anderen Reichen und Adeligen, die die Volksherrschaft Athens hassten und beseitigen wollten. Der Papyrus legte es nahe, dass eine Verbindung zwischen dem Tod Perianders und diesen Oligarchen bestand – welcher Art, das blieb ungewiss. Vielleicht war Periander selbst der Urheber dieses Werkes, und jemand fühlte sich durch seinen Inhalt verletzt? Der Autor war weder dumm noch unvermögend, und reich und klug war auch Periander gewesen. Außerdem schien er beunruhigt in den letzen Monaten. Sein Lehrer hatte es bemerkt, seine Freunde angeblich nicht. Überhaupt Freunde! Was für ein Freund war dieser Charmides, wenn er noch an dem Tag, an dem er von dem Mord an Periander hörte, ein Gelage geben konnte? Ja, und dann die beiden Schläger auf meinem Heimweg. Hatten die etwas zu bedeuten?
Kritias wusste schon von meinem Auftrag … So sammelte ich alles, was ich wusste, und versuchte, die Splitter zu einem Bild zu vereinen. Ich war so
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