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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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gerichtet. Der bot einen jammervollen Anblick. Er kauerte auf einem Schemel in der Mitte des Saals. Sein Gesicht war von Blut, Tränen und Rotz verschmiert, sein Gewand starrte vor Schmutz und Unrat. Die Soldaten mussten ihn durch Kot gezogen und ihr Wasser auf ihm abgeschlagen haben. Lysippos’ Blick war stumpf und ging ins Leere. Anaxos war nirgendwo zu sehen, aber sein böser Geist, der Soldat mit dem gespaltenen Gesicht, hielt neben Lysippos Wache. Als er mich erkannte, machte er eine obszöne Geste und lachte unverschämt dazu.
Ich versuchte, zu Lysippos durchzukommen, aber die Palastwachen hoben drohend die Speere. Ohne Blutvergießen konnte ich nicht mit ihm sprechen, also zog ich mich mit den Männern zu den Holzpritschen an den Seitenwänden zurück.
Ein Raunen ging durch die Bänke. Kritias betrat den Saal durch einen Seiteneingang. Schon stand ein ganzer Block junger Männer auf und applaudierte. Kritias schritt gelassen an ihnen vorbei und grüßte sie mit einer ausladenden Bewegung seines Armes. Dann hielt er vor den steinernen Richterbänken an der Kopfseite des Raumes, warf sich die Schöße seines Chlamys über die Schultern und setzte sich, nicht ohne dabei ins Publikum zu sehen und seinen dort versammelten Freunden und Anhängern huldvoll zuzunicken.
Kurz darauf erschienen die Richter, neun ehemalige Archonten, reiche und mächtige Männer. Ein jeder von ihnen trug einen Lorbeerkranz um die Stirn und war mit einem purpurnen, goldgesäumten Chiton bekleidet. Die beiden ältesten mussten sich beim Gehen schon stützen lassen, aber niemals wäre es ihnen in den Sinn kommen, ihr Amt niederzulegen. Den Richtern folgten Sklaven mit Fächern, Krügen und Obstschüsseln zur Erfrischung. Der letzte von ihnen, ein weißhaariger Mann mit langem Bart, trug die Wasseruhr. Sobald das Publikum die Richter bemerkt hatte, herrschte Stille im Saal. Man hörte nur noch ihre schleifenden Schritte. Mit finsteren Gesichtern durchmaßen sie den Raum und erklommen ihre steinernen Sitze. Während sie sich niederließen, stellte der Weißhaarige den vollen Tonkrug auf die unterste Stufe und den leeren Krug genau darunter auf den Boden. Danach nickte er dem Vorsitzenden zu, worauf der Kritias ein Zeichen gab. Der Ankläger erhob sich langsam und ging wie unter dem Gewicht einer schweren Bürde in die Mitte des Saales. Ein weiteres Zeichen des Richters, und der Sklave entfernte den an der Unterseite des oberen Kruges eingelassenen Pfropfen. In hohem Bogen ergoss sich ein dünner Wasserstrahl in das Gefäß darunter. Kritias durfte nun beginnen. Traurig und ernst sah er erst in das Publikum, dann zu den Richtern. Er schloss die Augen, als habe er gegen Tränen zu kämpfen. Endlich begann er mit stockender Stimme zu sprechen.
«Ihr seht mich hier, ihr Richter, wie ihr mich noch nie gesehen habt, und hört eine Anklage, die niemals vorbringen zu müssen ich täglich gebetet habe, ist sie doch nichts anderes als die Trauerrede um einen jungen Mann, den nicht weniger als einen Sohn ich liebte und den ich Sohn nennen würde, wenn dies nicht die Gefühle seines wahren Vaters, meines besten Freundes Alkmenon, verletzte. Ihr kennt ihn alle, um dessen Andenken willen wir uns hier versammelt haben, jenen schönsten, jenen klügsten, jenen edelsten jungen Mann, den Attika je hervorgebracht hat, einen Jüngling, der unsere Zukunft war …»
Mit jedem Satz, den er aussprach, schien Kritias’ Stimme sicherer und bestimmter zu werden. Beinahe melodiös wurde sie aber, als er Perianders Gestalt und seine sportlichen Erfolge beschrieb. Dann brach die Rede ab. Kritias hielt inne und besann sich, um Lysippos plötzlich mit bitterster Härte anzugreifen und auf ihn niederzugehen wie ein Falke auf eine Ratte. Kritias beschrieb Dutzende von Lysippos’ Untaten, mochten sie wahr sein oder nicht, bis zu seiner völligen Erschöpfung. Dann hielt er wieder inne und deutete auf den Angeklagten.
«Was erzähle ich denn? Ihr seht ja selbst!»
Es folgte ein präziser Bericht über Perianders Ring, den Lysippos an den Hehler Hermogenes verkauft hatte – Anaxos hatte Kritias offenbar gut informiert –, flankiert von einer kurzen Zeugenaussage des Charmides, der, den Richtern als Perianders engster Freund vorgestellt, bestätigte, dass Periander seinen Ring stets trug und ihn noch am Tag vor seinem Tod im Kreis der Freunde herumgezeigt hatte, weil er so stolz auf dieses Schmuckstück war. Ich erwartete, dass Kritias nun Lysippos’ Geständnis zitieren

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