Mord im Garten des Sokrates
würde, aber er erwähnte es mit keinem Wort.
«Ihr habt Charmides gehört», fuhr Kritias in seiner Anklage fort, «ihr wisst, wer den Ring schon am Tag nach Perianders Tod verkauft hat, und wisst damit auch, wer ihn Periander vom Finger zog. Damit kennt ihr aber auch den Mörder. Hier seht ihr ihn: dumm, schmutzig und armselig. Zu sagen gibt es nichts mehr. Urteilt nun und richtet ihn!» Kritias ging an seinen Platz zurück und setzte sich. Es blieb still im Saal, kaum wagte man einzuatmen, so sehr hatte die Anklage die Zuhörer in ihren Bann gezogen. In dem Moment versiegte der kleine, silberne Wasserstrahl. Der oberste Richter nickte, und der weißhaarige Diener der Zeit verschloss das obere Gefäß wieder. Dann stellte er die Amphoren um. Endlich zeigte der Vorsitzende auf den Angeklagten. Der Sklave löste den Korken. Wieder ergoss sich der Wasserstrahl in das untere Gefäß. Es war nun an Lysippos zu sprechen, um sich zu verteidigen. Es war vollkommen still im Saal. Die Augen eines jeden Richters und Zuschauers waren auf ihn gerichtet. Der aber sah nur zu den Areopagiten hinauf. Sein Gesicht und seine Augen blieben stumpf. Jetzt müsste er sich erheben und mit den einleitenden Worten beginnen: Meine hohen Richter, ihr Herren der Stadt, ich bin meinem Ankläger dankbar für die harten Worte, mit denen er mit mir ins Gericht geht …
Wir hatten es hundertfach geprobt in den letzten Tagen, immer wieder, immer wieder. Ich sprach die Worte leise vor mich hin. Ich hätte sie ihm vorsagen wollen. Eine gelungene Einleitung sei so wichtig, hatte Lysias mir erklärt. Von ihr hängt ab, ob dir die Richter überhaupt zuhören werden, hatte ich Lysippos eingebläut. Sprich endlich!, wollte ich ihm zurufen, während der feine Wasserstrahl unbarmherzig weiterfloss. Aber Lysippos blieb stumm.
«Nun rede zu deiner Verteidigung!», forderte der oberste Richter ihn schließlich unwillig auf. Die Zuschauer begannen zu murren. Lysippos schüttelte den Kopf. Ein paar Tränen rannen ihm über die schmutzigen Wangen und hinterließen eine dünne Spur in seinem Gesicht.
«Da seht ihr», rief Kritias triumphierend, sprang auf und stellte sich vor Richter und Publikum. «Er verteidigt sich nicht! Er wagt nicht, seine Tat zu leugnen! Wie könnte er auch? Die Schuld dieses Mannes ist gewiss.» Wieder legte Kritias eine Pause ein, als suchte er nach den richtigen Worten. Dann drehte er sich langsam zu mir und sah mir unvermittelt in die Augen.
«Und wieder einmal erkennen wir, was ich geschrieben und so oft gesagt habe:
Die Armut musste ihn ins Verbrechen treiben!»
Die Zuschauer applaudierten, aber ich hörte das Klatschen der Hände und das Trommeln der Füße nur von fern, beinahe wie in einem Traum. Was hatte Kritias gesagt? Zu welcher Urheberschaft bekannte er sich hier vor ganz Athen? Ich zog den Papyrus aus meinem Harnisch. Es war Mysons zweite Kopie. Ich entrollte das Schriftstück, schnell fand ich die fatalen Worte:
… Das Volk aber wird von Unwissenheit und Schwäche beherrscht – die Armut muss es ins Verbrechen treiben.
Ich hob den Arm und rief: «Halt!»
Das Bild der keifenden Menge, das sich mir bot, ist unbeschreiblich. Alle Augen richteten sich auf mich. Ein jeder Mund schien eine Verwünschung auszusprechen, ja auszuspeien. Fäuste wurden gegen mich erhoben. Aber irgendein Gott schützte mich und verschloss mir die Ohren. Für einen Augenblick war ich taub. Ich sah, wie die Spucke von den Lippen dieser Männer explodierte, aber ich blieb wie im Schlaf, und die Menge, die da vor mir stand und fluchte, schien nichts weiter als ein entferntes, ohnmächtiges Traumgespinst. Noch war Wasser im oberen Krug.
Durch einen Nebel sah ich, wie der erste Richter sich erhob und mit drohender Geste der Meute und ihrem Lärm Einhalt gebot. Endlich setzten sich die Menschen wieder und verstummten – ich hörte es nicht, ich sah es nur an den geschlossenen Lippen. Der Vorsitzende zeigte auf mich.
«Was willst du, Hauptmann, und weshalb störst du das Gericht?», fragte er drohend, gerade als mir die Götter mein Gehör zurückgaben.
«Ich will aussagen, ihr Richter, ihr Herren der Stadt: Lysippos ist unschuldig!», antwortete ich laut und bestimmt, und wieder brandete die Empörung der Zuschauer an mein Ohr.
«Niemand hat dich zur Aussage gerufen», erwiderte der Richter, setzte sich und schien sich für einen Moment mit den Beisitzern zu beraten. Sie nickten übereinstimmend. Darauf wandte sich der Vorsitzende an Lysippos und fragte:
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