Mord im Garten des Sokrates
sachlich war sein Ton. War das mein Porträt, das er da vor meinen Augen zeichnete, benahm ich mich tatsächlich so wie ein einfältiger Soldat?
Lysias berichtete an meiner Stelle in knappen Worten und ohne jeden Schnörkel, wie Alkibiades mir den Auftrag erteilt hatte, den Mord an Periander aufzuklären, wie ich zusammen mit Hippokrates den Leichnam untersucht und im Rachen des armen Opfers einen Fetzen der ‚ «eines Werkes, das in Athen in gewissen Kreisen weit verbreitet ist» , wie ich bemerken sollte, gefunden hatte. Einzelheiten der Leichenschau überging er, und er vermied jeden Eindruck, er könne glauben, die vor ihm versammelten Richter seien je selbst mit jenem oligarchischen Werk in Berührung gekommen. Den Inhalt des Pamphlets gab er ausführlich und mit Widerwillen wieder, und so lenkte er den Verdacht an der Schuld für das Verbrechen langsam und wie beiläufig auf eben jene Kreise, in welchen das Machwerk von Hand zu Hand ging.
Als wäre er ich selbst, schilderte er, wie ich Hippokrates eindringlich befragt hatte, ob dieser Papyrus etwa als Knebel gedacht gewesen und den Tod des armen Periander zufällig herbeigeführt haben konnte, nicht ohne im gleichen Atemzug die Antwort des Arztes zu geben und keinen Zweifel daran zu lassen, dass der Mörder Periander mit voller Absicht gerade mit diesem Fetzen erstickt habe. Dass Hippokrates die Stadt wegen dieses Wissens habe verlassen müssen, deutete er an, ohne Namen zu nennen. Dann folgte der Bericht der Wäscherin über den Streit am Itonia-Tor, den sie gerade in der Mordnacht vernommen hatte, und – wieder ohne Einzelheiten – ein knapper und kalter Rapport über die Folter, der man Lysippos unterzogen hatte, damit er gestehe.
Habt ihr vernommen, ihr Richter, was Nikomachos zu sagen hat, gerade der aufrechte Hauptmann, der mich verhaften ließ? Könnt ihr euch vorstellen, dass er euch hier und heute belügen könnte, er, der mich in Ketten gelegt hat, wie es seine Pflicht war? Nein! Dieser Mann ist aufrichtig, ihr wisst es so gut, ja, ihr wisst es besser als ich, denn ihr kanntet auch schon seinen Vater.
Lysias begann Lysippos’ Schlussplädoyer vorzutragen, als sich die Tür öffnete und ein junger Mann in den Raum trat. Lysias sah auf und hielt augenblicklich inne. Ein Strahlen ging über sein Gesicht.
«Polemarchos, endlich, du bist zurück!», rief er aus, lief auf den Besucher zu und schloss ihn lang und innig in die Arme.
Ich stand auf, um den mir unbekannten Gast gleichfalls zu begrüßen. Als Lysias ihn aus der Umarmung freigab und mir Polemarchos vorstellte, blitzte eine verstohlene Träne in seinem Augenwinkel.
«Nikomachos, das ist mein jüngerer Bruder. Er war mit der Paralos unterwegs. Wir haben seit Tagen auf ihn gewartet.»
Ich verstand ihn gut, denn die Paralos, das Flaggschiff der Athener Flotte, war seit zwei Wochen überfällig, und in der Stadt hatte man schon befürchtet, sie könne angegriffen und zerstört worden sein. Lysias’ Bruder war offenbar Soldat zur See und mit dem Schiff vermisst worden.
Ich begrüßte Polemarchos und beglückwünschte ihn zu seiner Rückkehr. Er war um einige Jahre jünger als Lysias, großgewachsen und schlaksig. In seinem jungenhaften, aber von der Sonne gegerbten Gesicht standen die Strapazen einer schweren Reise. Er erwiderte meinen Gruß liebenswürdig und bat darum, wegen seiner Ankunft doch keine Umstände zu machen. Das war freundlich, aber ich wollte die Brüder lieber so schnell wie möglich allein lassen. Ich ließ mir von Lysias gerade noch die Redemanuskripte und ein paar letzte Anweisungen für die Verhandlung geben. Dann verließ ich das Haus. Die Familie sollte Polemarchos’ gesunde Rückkehr ganz im vertrauten Kreise feiern können.
Ich trat hinaus und zögerte einen Augenblick. Staub tanzte in den Gassen. Weinlaub rankte sich an einer Mauer empor und bildete ein wirres Dickicht von Ästen, Knoten und Blättern. Darüber erhob sich die Akropolis mächtig und erhaben vor meinen Augen, und dahinter stand der Berg Lykabettos wie ein unbeweglicher Riese: eine Göttin und ein Titan.
Ich wandte meine Schritte zum Gefängnis. Nun musste Lysippos seine Verteidigungsrede auswendig lernen. Das würde ihm niemand abnehmen können. Mit seinen eigenen Lippen musste er die Worte sprechen.
die wochen bis zu Lysippos’ Prozess vergingen rasch. Wie Lysias vorausgesagt hatte, sollte Kritias die Anklage übernehmen. Auch dass Lysias die Verteidigungsrede geschrieben hatte, war bekannt geworden
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