Mord im Garten des Sokrates
nicht nur mein Leben zu verdanken, denn sie retteten mich in jener Nacht aus den Klauen der Mörder, sondern auch die Freiheit, mich wieder durch die Straßen und Gassen zu bewegen.
Myson! Er war ein Spion. Ja, das war er. Ich hatte mich nicht getäuscht. Und sicher war er mir gegenüber deswegen so befangen, nachdem wir uns angefreundet und ich ihn nach Lysippos’ Attacke nach Hause begleitet hatte. Aber er war nicht Anaxos’ Spion. Nein, er war der Spion des Thrasybulos und der Demokraten, die mich auf meinen Wegen beschützten, seit er mich in meinem Garten besucht und erraten hatte, wieso ich mir immer wieder an die schmerzhaften Rippen fasste … Myson gestand es mir wenige Tage nach der Bestattung meines Vaters, und ich umarmte und küsste ihn dafür, denn ich verdankte diesem kleinen Verrat das Leben.
Alkibiades? Nur ein Jahr konnte er sich als Hegemon autokratos halten, dann jagten ihn die Athener davon. Schon für das große Gewitter bei der Prozession gaben sie ihm die Schuld, eine verlorene Seeschlacht genügte dann, um ihn abzuwählen … Die Liebe des Volkes ist wankelmütiger als die Liebe einer Hetäre. Alkibiades wusste das und verließ Athen auf schnellstem Weg. Ob er etwas mit dem Anschlag auf meinen Vater und mich zu tun hatte, habe ich letztlich nie in Erfahrung gebracht. Einmal habe ich mit Sokrates über die Rolle gesprochen, die Alkibiades bei diesem nächtlichen Überfall gespielt haben mochte, aber Sokrates trat für ihn ein und gab mir sein Wort, dass sein ehemaliger Schüler von Anaxos’ Machenschaften nichts gewusst habe. Ich wunderte mich, wie sicher Sokrates war, dem sonst so wenig sicher schien, aber ich vertraute seinem Urteil. Überhaupt Sokrates: Er war sofort bei mir, nachdem er von der feigen Tat gehört hatte, und versuchte mich zu trösten. Mit ihm und seinen Vertrauten besuchte ich auch die Agora wieder. Zunächst nur bei Tage und mit größter Angst, dann zunehmend beruhigter und sicherer, aber es dauerte ein ganzes Jahr, bevor ich es wagte, ihn und seine Freunde auch bei Dunkelheit hierher zu begleiten – selbst bei Tag sah ich mich von Zeit zu Zeit misstrauisch um. Durch Sokrates schloss ich mit beinahe all seinen Schülern Freundschaft. Aber eben nur beinahe, denn einer mied mich, so gut er konnte: Platon. Und je mehr ich mich ihm zu nähern und je mehr ich ihn zu verstehen versuchte, desto mehr entzog er sich.
Mein Vater fehlte mir sehr, aber Aspasia und die Kinder waren bei mir und gesund. Ihnen gehörte meine größte Sorge, und ihnen verdankte ich den größten Trost. Daher richtete Thrasybulos in den Zeiten, zu denen ich nicht zu Hause sein konnte, eine Wache für sie ein, die das Haus bei Tag und Nacht beschützte.
Anaxos und den Soldaten mit der Narbe habe ich in den ganzen Jahren nicht mehr gesehen, obwohl ich oft genug beim Strategion auf sie lauerte, Pfeil und Bogen in der Wurzel des Baumes versteckt, hinter dem ich mich verbarg. Es war, als hätten sie sich in den Kellern des Strategenpalastes, in den Archiven von Anaxos’ Wissen um alles und jeden, verkrochen, aber irgendwann würden sie auftauchen müssen. Auch die Würmer konnten sich nicht immer in der Erde verbergen.
Chilon, dem ich nähergekommen war in den letzten Jahren, fragte mich einmal, wieso ich Athen und seine Gefahren nicht verließ. Ich konnte ihm die Frage nicht beantworten, bis ich wieder einmal hinter jenem Baumstamm kauerte und einen ganzen Nachmittag und halben Abend lang zum Hauptportal des Palastes hinübersah. Es war ein bitterer Wintertag. Der Nordwind fegte schneidend über das Land und ließ das Wasser in den Pfützen gefrieren. Während ich fast blau gefroren in der Kälte kauerte, erstand die Erinnerung an Sokrates in mir, wie ich ihn einmal mitten im Winter barfuß stundenlang in einer Pfütze hatte stehen sehen. Da erkannte ich, was mich hier hielt und mich gegen den Frost dieses Tages beinahe unempfindlich machte. Es war der Wille. War Sokrates’ Wille aber auf Erkenntnis, so war mein Wille auf Vergeltung gerichtet, wie ich bekenne. Er war darum sicher weniger edelmütig, aber doch nicht minder mächtig … Als ich mich Chilon offenbarte, nahm er mich nachsichtig in den Arm und schwieg, wie nur gute Freunde schweigen können.
Unsere Stimmung war heiter und gelassen. Sokrates und Aristippos lachten über irgendeinen kleinen Scherz, als uns drei bildhübsche Hetären entgegenkamen. Eine von ihnen war Laïs, die begehrteste, teuerste Kurtisane der Stadt. Sie sah Sokrates,
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