Mord im Garten des Sokrates
hatte sich eine gewaltige Menschenmenge versammelt, um dem Zug durch die Stadt, über die Agora bis hinauf zur Akropolis zu folgen. Vier junge Mädchen aus vornehmsten Familien hielten das neue Gewand Athenes, an dem die Priesterinnen monatelang gearbeitet hatten. Es war eine prächtige Tunika, in die Athenes Sieg über den Titanen hineingewirkt war. Mit diesem Gewand sollte die alte Holzstatue der Göttin im kleinen Tempel neben den Propyläen neu gekleidet werden.
Ein Horn ertönte, und die Prozession setzte sich in Bewegung. Die Jungfrauen gingen voraus, ihnen folgten Athenes Priesterinnen und ein Zug vornehmer Damen. Ich versuchte auszumachen, ob nicht vielleicht Perianders Mutter unter ihnen war, aber es war noch zu dunkel, und vor mir drängten sich zu viele, als dass ich wirklich ein Gesicht hätte erkennen können.
Nach den Frauen gingen die Führer der Opfertiere mit 100 Kühen und Schafen. Ihnen folgten die Athener Metöken mit Tabletts voller Opfergaben, Kuchen und Honig. So mussten sie Jahr für Jahr zeigen, dass sie Athene und ihrer Stadt die Treue hielten. Myson musste unter ihnen sein, aber auch ihn sah ich nicht. Dicht hinter den Schutzbürgern kamen die Wasserträger und Musiker, die Flöten- und Chitara-Spieler. Sie waren in bunte Kleider gehüllt und versuchten fröhlich und ausgelassen zu sein, auch wenn der Wind ihnen die Lorbeerkränze vom Haar blies und die Musik übertönte.
Den Musikern schlossen sich die alten Würdenträger der Stadt an, die Generäle und Admiräle, die Archonten und Richter mit ihren ernsten und feierlichen Mienen. Jeder von ihnen hielt einen Olivenzweig in der Hand als Zeichen des Friedens und der Dankbarkeit für den Ölbaum, den Athene uns geschenkt hatte. Den Richtern folgten die Fahrer mit ihren Streitwagen, die am nächsten Tag ein Rennen auf der Agora austragen würden, und da, in einem der prächtigsten Vierspänner, die man sah, erkannte ich Kritias und Lykon. Sie winkten in die Menge und ließen sich bejubeln. So zogen sie an mir vorbei. Kritias mit von Hochmut geschwellter Brust, voller Stolz auf seinen Besitz: den Wagen, die Pferde und den Jüngling, Lykon mit weibischem Lächeln und affektierten Gesten wie ein käuflicher Knabe. Er erkannte mich in der Menge, und für einen Augenblick flackerte so etwas wie Scham in seinem Gesicht auf, aber er wandte den Kopf ab, noch bevor unsere Blicke sich kreuzen konnten. Hochrufe ertönten auf den großen Kritias und seinen schönen Knaben. Mir grauste. Ich wünschte mir, ich hätte die beiden nicht gesehen.
Nachdem uns alle Streitwagen passiert hatten – die Sonne stand hoch am Himmel, so lange brauchte der Tross, um sich in Bewegung zu setzen –, machten wir uns mit den übrigen Athenern auf den Weg, um der Prozession zu folgen. Wie dies Sitte war, gingen Vater und ich zusammen mit unseren Nachbarn aus dem Kerameikos. Ein Weinkrug machte die Runde. Man schlug sich auf die Schultern und lachte, obwohl uns der Wind ins Gesicht blies. Nur ich blieb stumm; mein Vater bemerkte dies wohl.
Als die Straße anstieg, sahen wir die Streitwagen wieder vor uns. Kritias hielt Lykon im Arm. Der Junge schmiegte sich an die Brust seines neuen Liebhabers und winkte der Menge zu, als käme er gerade von einer siegreichen Schlacht zurück.
Wie gerne hätte ich ihm die Wahrheit über seinen neuen Freund erzählt! Wie gerne erklärt, wieso Kritias den Prozess am Areopag gewonnen hatte! Glaubte er, der Erfolg sei Kritias’ Redekunst zu verdanken? Er war es nicht, wie mir Lysippos schon am Tag nach dem Urteil gestanden hatte. Nie werde ich das Bild vergessen: Lysippos saß auf seiner Strohmatte in der Zelle, seine Tochter und sein Enkel bei ihm. Die Frau weinte, das Kind mit ihr, ohne zu verstehen, worum es ging, und Lysippos erzählte mir, wie Anaxos ihn vor eine ganz einfache Wahl gestellt hatte: sein Leben oder das Leben seiner Tochter und des Enkels. Die Entscheidung war ihm leichtgefallen, auch wenn er selbstsüchtig war. Die beiden waren die einzigen Menschen, die ihm etwas bedeuteten, und so entschied er sich für das Leben seiner Tochter und ihres Kindes. Er bat mich noch nicht einmal mehr, ihn fliehen zu lassen, zu sehr war ihm bewusst, welches Faustpfand Anaxos da in Händen hielt.
Einige Tage später nahm Lysippos den Schierlingsbecher, den Bias ihm reichen musste. Er nahm ihn weder trotzig noch verbittert, sondern mit einer ganz neuen und eigenen Würde. Er nahm ihn und trank ihn aus – für das Leben seines Stammes und
Weitere Kostenlose Bücher