Mord Im Kloster
Zeit, hochfliegende Gedanken, wandernde Schatten.
Henri de Roslin sah zum Himmel auf. Wie wunderbar die Kraft der Frühlingssonne alles erwärmte! Auch ihn selbst. Er blieb bei seinem Gang über den Klosterhof stehen und fühlte sich einen Moment lang wie eine Blume, die sich zum Licht reckt. Auch Menschen sind Natur, dachte er, obgleich sie mit göttlichem Geist beseelt sind und herausgehoben aus allen Kreaturen. Wir brauchen Wärme und Licht wie der Rhododendron, wie der Salamander.
Alissa, die Tochter des Burgherrn Edmonton von St. Albans, fiel ihm ein. Welch ein merkwürdiges Mädchen. Und wie schön sie war. Ob er sie noch einmal wieder sehen würde?
Inzwischen war er sich beinahe sicher, dass die Gerüchte von der Sünde zwischen ihr und dem Abt nicht aus der Luft gegriffen waren. Er konnte es sich inzwischen vorstellen. Und ermahnte sich selbst, wenn er es sich in allen Einzelheiten vorstellte. Auch diese Bilder in der Fantasie, dachte er, sind Sünde. Trotz aller Verbote, dachte er, was zwischen Mann und Frau geschieht, geht nur sie an.
Henri ging weiter. Es fiel ihm auf, dass die Konversengasse menschenleer war. Auch die Schuhberge waren weggeräumt worden.
Er hatte um ein Gespräch mit dem Kellermeister gebeten. Henri war ein neuer Verdacht gekommen. Er wollte mehr erfahren über die wirtschaftliche Situation des Klosters. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass oft interne Schwierigkeiten der Grund für Ereignisse waren, die man nicht verstand.
Kellermeister Axe of Wells empfing ihn in seinen Räumen, die sich in der Prälatur befanden. Kostbare Ledertapeten mit Davidsmotiven bedeckten die Wände. Der Kellermeister war ein leutseliger Mann mit rotem Gesicht, offensichtlich dem Wein zugetan. Aber auch ein kluger, nüchterner Kopf, wenn es um fiskalische Dinge ging.
Henri kam gleich zur Sache. Er wollte wissen, wie der Kellermeister die Gerüchte gegen den Abt Thomas deutete.
Axe of Wells sah unsicher aus. Er strich sich über die Lippen, als wollte er falsche Worte versiegeln. Dann sagte er: »Ich glaube nicht an so etwas. Die Beschuldigungen gegen unseren Abt werden aber gern geglaubt, ich merke schon, dass es eine auffällige Bereitschaft dafür gibt. Vor allem, wenn man sich im Ort umhört, merkt man, dass die Vorurteile gegen unser Kloster steigen. Die einfachen Leute draußen fühlen sich von allen möglichen Mächten eingeschränkt, vom Adel, von Herrschaftshäusern, vom Klerus. Wenn solche Gerüchte auftauchen, greift man gern zu. Dann kann man etwas von seinem Unmut abreagieren.«
»Könnte eine Verschwörung dahinter stecken?«
»Von wem? Nein, nein. In meinen Augen kocht da nur ein bisschen Unmut auf, der sich angesammelt hat. Das legt sich wieder.«
»Ein bisschen Unmut? Dieser Unmut führte zum Tod des Abtes. Wer hat ihn ermordet?«
»Die Konversen natürlich! Abt Thomas war ja verantwortlich für den Schuherlass. Nur können wir ihnen nichts nachweisen. Und wir können sie auch nicht des Klosters verweisen. Denn wir brauchen dringend ihre Arbeitskraft. Ohne die fleißigen Laien würde das Kloster innerhalb von drei Tagen gänzlich zusammenbrechen.«
»Wie ist die wirtschaftliche Situation in St. Albans?«
Der Kellermeister rieb sich wieder die Lippen. »Es ist für mich sehr erfreulich, sagen zu können, dass wir reich sind. Sehr reich sogar.«
»Das ist schön für Euch!«
»Neben der Landwirtschaft betreiben wir inzwischen auch den Abbau von Eisenerz und Zinn. Wir können das sogar ohne die Kontrolle des Sheriffs tun und zahlen die fälligen Abgaben für die Krone direkt an den Warden, seinen persönlichen Amtsträger. Darüber hinaus sind wir im Wollgeschäft. Wir betreiben in der Nähe eine Tuchfabrik, die Laken als Grundlage für die Kleidung aller Menschen in England herstellt. Wir müssen natürlich auch einführen, Alaun und Färbemittel, aus Flandern hochwertige Textilien, aus dem Ostseeraum Pech, Wachs und Fell. Und wir wollen den Umstand verändern, dass der Handel mit dem Ausland bisher von Normannen kontrolliert wird. Wir wollen englische Kaufherren.«
»Verleiht ihr Gelder?«
»Natürlich.«
»Dafür sind nicht mehr jüdische Bankiers zuständig? Oder die Italiener?«
»Die einheimischen Klöster sind mittlerweile die Bankiers und Hauptfinanziers des Adels und der Krone. Das müsst Ihr doch wissen, Bruder Henri. Und die Juden wurden vor zehn Jahren vertrieben.«
»Nun ja. Aber lasst mich auf einen Punkt kommen, der mir besonders wichtig erscheint. Ich
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