Mord Im Kloster
aufstieg. Aber er beherrschte sich.
»Hier, nehmt den Beutel«, sagte er. »Ich verlange nichts dafür, außer der Wahrheit. Die Wahrheit ist mir immer etwas wert. Im Übrigen – tut, was Ihr wollt. Ich schenke Euch das Geld, weil Ihr so schön schreibt. Ich verfolge damit keine Pläne.«
Bruder Jerome schaute ihn mit eingezogenem Kopf an. Er wusste nicht, was er denken sollte.
Javierre de Bastard drehte sich um und verließ das Scriptorium. Nein, jedes weitere Wort war hier zu viel. So kam man nicht weiter. Gegen solche verstockten Gesellen kam man mit Freundlichkeit nicht zum Ziel.
Henri und Neville tauschten ihre Gedanken bei einem Rundgang durch den Klostergarten aus. In der Ferne sahen sie plötzlich Javierre de Bastard. Er kam aus dem Scriptorium und winkte ihnen zu. Dann verschwand er in der Prälatur.
»Ich frage mich, was er hier zu schaffen hat«, sagte Neville. »Ich denke, er ist Unternehmer in Frankreich? Was treibt er hier?«
»Seine Anwesenheit ist nur sinnvoll, wenn seine Geschäfte inzwischen hier laufen«, entgegnete Henri.
»Was sollten das für Geschäfte sein?«
»Keine Ahnung. Wir sollten ihn selbst fragen. Er weicht uns zwar aus, seitdem er angekommen ist. Aber irgendwann stehen wir ihm gegenüber. Dann muss er antworten.«
»Er wird antworten – aber mit irgendeiner Geschichte.«
»Neville, ich denke gerade darüber nach, was mir am Morgen ein Mönch erzählte. Abt Thomas konnte weder lesen noch schreiben. Das heißt, er hat den Brief an mich nicht selbst geschrieben.«
»Ah – ich weiß, woran du denkst. Er hat einen Schreiber aufgesucht, und dem hat er vielleicht noch mehr erzählt als das, was in dem Brief stand.«
»Genau!«
»Dann suchen wir diesen Schreiber auf!«
»Das wollte ich vorschlagen.«
Sie setzten ihre Überlegung sogleich in die Tat um. Als sie die schmale Stiege zum Scriptorium empor gingen, hörten sie jemanden singen. Beim Eintritt in den Schreibsaal, der von Pulten voll gestellt war, sahen sie Bruder Jerome. Er hörte schlagartig auf zu singen, als sie näher kamen. Er starrte ihnen geradezu entsetzt entgegen. Als sie vor ihm stehen blieben, sahen sie, wie bleich er geworden war, seine Nasenflügel bebten.
»Bruder Benediktiner, was ist Euch?«, fragte Neville.
»Ich sehe Ungemach«, stieß der Mönch hervor. »Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen.«
Henri sagte besorgt: »Was meint Ihr bloß?«
»Wir sprachen gerade über Euch. Und nun taucht Ihr leibhaftig auf, als hätten die Worte Euch herbeigerufen.«
»Redet bitte kein krauses Zeug!«, sagte Henri. »Ich bin seit Tagen im Kloster. Ihr habt mich gewiss schon ein paar Mal gesehen, auf jeden Fall beim Gebet oder auch bei den Mahlzeiten im Refektorium. Was soll also Unheimliches daran sein, dass…«
»Dieser Stapelherr aus Frankreich, ich sage es ganz offen, wollte mich bestechen, damit ich nicht mit Euch spreche. Hier, seht diesen Geldbeutel. Ich ekele mich davor, ich will ihn nicht. Nehmt Ihr ihn.«
»Der Reihe nach, Bruder. Er wollte, dass Ihr nicht mit mir redet? Worüber solltet Ihr nicht mit mir sprechen?«
»Über den Brief, den der Abt mir diktierte.«
Jetzt wurde es auch Henri mulmig. Er hatte plötzlich das Gefühl, die Dinge beschleunigten sich. Ein Sog entstand, der alles mit sich riss. Es war, als sei plötzlich eine Tür aufgestoßen und dahinter öffneten sich Räume, in die sie bisher nicht geblickt hatten. Von dem Gefühl der Langsamkeit, das Henri in den letzten Tagen begleitet hatte, blieb nichts mehr übrig.
»Wollt Ihr denn mit Henri de Roslin über diesen Brief sprechen, Bruder?«, fragte Neville.
»Eigentlich ja. Aber ich habe Angst.«
»Vor wem?«
»Die Mächte, die Abt Thomas ermordeten, sind noch lebendig.«
»Ihr glaubt nicht an das geläufige Mordmotiv? Die Rache Fürst Edmontons oder eines Familienangehörigen?«
»Nie und nimmer. Das Mordmotiv stand in dem Brief.«
Henri schluckte. »Ich habe den Brief aufmerksam gelesen. Darin stehen nur vage Andeutungen. Wisst Ihr mehr?«
»Der Abt erzählte mir alles unter dem Siegel der Vertraulichkeit. Aber jetzt ist er tot, eine andere Situation ist entstanden. Ich hätte mich schon dazu durchgerungen, Euch anzusprechen, glaubt mir. Und jetzt, nach dem Besuch dieses normannischen Unternehmers, muss ich es erst recht loswerden.«
»Also dann sprecht!«
»Abt Thomas sagte…«
Der Mönch konnte nicht weitersprechen. In diesem Moment stürmten zwei Mönche die Stiege empor und schrien auf sie
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