Mord Im Kloster
in ihm. Soll ich im letzten Moment, wenn alles schon bereitet ist, lieber dem Geist dieses Tages folgen als meinen Einflüsterungen? Soll ich Schöpfer spielen oder Tod? Können die Dämonen überhaupt noch einmal vertrieben werden, wenn sie schon geweckt sind?
Er grübelte noch einen Moment lang. Von unten drang die Stimme des Priesters zu ihm herauf: »Denn heute hast du das österliche Heilswerk vollendet, heute hast du den Heiligen Geist gesandt über alle, die du mit Christus auferweckt und zu deinen Kindern berufen hast. Am Pfingsttag erfüllst du deine Kirche mit Leben.«
John seufzte tief. Dann arbeitete er weiter.
Als Erstes begannen Teile des Pfeilersockels mit dem fein ziselierten Rankwerk zu brechen. Das Pfeilerfundament zeigte Risse, die langsam größer wurden und sich dann ganz öffneten.
John konnte dem Tod bei der Arbeit zuschauen. Der ganze Sockel brach Stück für Stück, und der Pfeiler, der wie eine Verzierung aussah, aber ein Stützpfeiler war, schwankte.
Danach begann die ganze Wand des Obergadens zu bröckeln. John hörte ein Knirschen in der Wand, es kam von den Fenstern, in denen plötzlich die Figuren, Muster und Gestalten zu leben begannen. Sie bewegten sich.
Jetzt war kein Halten mehr.
Es ist vollbracht, dachte John Sandys. Dann schlug er kräftig mit dem Stemmeisen gegen den Pfeiler. Jetzt brauchte er keine Zurückhaltung mehr zu üben.
Einzelne Brocken polterten zu Boden, kollerten über den schmalen Umgang, rollten dann auf den Rand der Empore zu, stürzten hinab. Der Stützpfeiler stürzte unter der nun zu schweren Last in sich zusammen.
Die schweren Brocken fielen zuerst auf die Grabfiguren der Templer.
Sie waren wie Geschosse, die mit großem Getöse alles zersplittern ließen. Eines dieser Geschosse traf das Grab des Heraklius, des Patriarchen von Jerusalem, der die Kirche im Jahr des Herrn 1185 geweiht hatte. Die nächsten Brocken trafen den Grabstein von Robert de Ros, der schon im Jahr des Herrn 1227 gestorben war und nun zumindest im Gedächtnis des Tempels noch einmal starb, als ihm der Felsstein den Kopf abschlug.
Die Brocken splitterten nach allen Seiten und verletzten die knienden Beter. Von den tückischen Splittern mitten in der inbrünstigen Stimmung wehrlos getroffen, sanken viele Templer, ohne einen Laut von sich zu geben und ein Gefühl zu zeigen, auf den kalten Platten des Fußbodens zusammen.
Ihre Mitbrüder sprangen entsetzt auf und versuchten vor dem, was da unversehens aus der Höhe hereinbrach, zu fliehen. Panik brach aus. Und die Eingangstür blieb verschlossen.
Jetzt stürzte der nächste Pfeiler um. Er löste sich aus der Wandverkleidung, durchschlug die Empore und riss Glas, Holz und Marmorplatten mit sich. Und er riss John Sandys mit sich.
Der Steinmetz hatte für einen Moment nicht Acht gegeben. Er hatte sich zu früh darüber gefreut, dass er endlich mit Erfolg tat, wovor er so lange gezögert hatte. Er spürte den Triumph darüber, endlich seine eigenen Skrupel überwunden zu haben.
John Sandys richtete sich auf und starrte hinunter, um zu sehen, wie viele getroffen wurden. Dabei überfielen ihn Zweifel. Er sah die Verletzten, er sah, wie viele sich im Blut wälzten, er spürte die Verzweiflung dort unten bis hinauf zu seinem Beobachtungsposten in luftiger Höhe.
Und plötzlich ergriff ihn Reue. Er spürte sie in sich aufsteigen wie ein Fieber. Er wollte es nicht sehen. Er schlug die Hände vors Gesicht. Er schwankte. Ein Teil des Pfeilers polterte heran und schlug seine Knie einfach weg.
Er verlor den Halt, versuchte sich irgendwo festzuhalten. Aber er hatte die seitlichen Balken des Baugerüstes selbst am Vortag entfernt, um die tödliche Lawine nicht zu behindern.
Mit einem unversöhnten, anklagenden Schrei fiel John Sandys in den Kirchenraum hinunter.
Mit Donnergetöse stürzte danach ein Teil der Westseite der Temple Church in sich zusammen und beendete das Fest der fünfzig Tage mit dem Schrecken eines einzigen tödlichen Moments.
An diesem Tag feierten auch die Mönche des Klosters von Hertford das Fest der fünfzig Tage. Auch sie waren mit einem langen Zug in ihre Kirche eingezogen. Sie hatten Hostie und Kelch erhoben und sich selbst reihum gezeigt. Sie bereiteten das Hochfest des Leibes und des Blutes nach ihren uralten Regeln vor, und sie schienen mit einer einzigen festen Stimme zu singen: »In Wahrheit ist es würdig und recht, dir, Herr und Heiligem Vater, ewigem Gott, immer und überall zu danken.«
Henri de
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