Mord im Nord
zu erleuchten und zu weiten und die heiligen Worte und Gedanken zu wecken, das erschien ihm eine geniale göttliche Idee. Zwischendurch hatte er zwar einige Skrupel, weil er mit seiner Arbeit an einem somaähnlichen Elixier möglicherweise dem lieben Gott ins Handwerk pfuschte, schliesslich hatte die christliche Schöpfung kein Soma enthalten. Dann tröstete sich Gregorius mit dem Gedanken, dass der liebe Gott, wenn er schon die Zutaten zu einer solchen Tinktur geschaffen habe und zudem sein, Gregorius’, Gehirn, das diese Zutaten neu mischen und aufbereiten konnte, auch in Kauf genommen hätte, dass daraus so etwas wie ein appenzellisches Soma werden könnte.
Von solchen inneren theologischen Debatten weitgehend unbehelligt, werkelte Bruder Gregorius laut seiner Aufzeichnungen unverdrossen an seiner Version von Soma. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, aus einem Mythos trinkbare Realität zu machen. Und da praktischerweise niemand wusste, woraus Soma in Wirklichkeit gemacht wurde, fühlte er sich frei, selber eine appenzellische Version zu gestalten.
Zunächst hatte Gregorius geduldig alles Wissen gesammelt, das es zu ernten gab, in uralten Kräuterbüchern in der Klosterbibliothek, vor allem aber bei jenen Männern und besonders Frauen aus dem ganzen Appenzellerland, die über lange und sorgsam gehütetes Wissen um die Heilwirkung von Kräutern, Pilzen und Wurzeln verfügten. Ihm, dem Mönch gegenüber, öffneten sich diese sonst verschlossenen und misstrauischen Wissenshüter rascher und stärker als sonst, und so erfuhr Gregorius, dass so manches Kräutlein nicht nur zur Heilung des Leibes eingesetzt wurde, sondern auch zu Wohl und Frommen von Geist und Seele.
Dann hatte Gregorius viele, viele Stunden in dem kleinen Labor verbracht, das er sich im Keller des Klosters eingerichtet hatte, und dort mit unendlicher Geduld unzählige Mischungen, Verarbeitungsmethoden und Destillationsverfahren ausprobiert. Bis er schliesslich mit dem Ergebnis zufrieden war. Sein Elixier, so schrieb er laut Bruder Thomas am Schluss seiner Aufzeichnungen, habe nun eine somaähnliche Wirkung und befreie tatsächlich Geist und Seele, sei aber frei von jedem hoffärtigen Überschwang, sondern wirke still und bescheiden, wie es sich für ein ordentliches appenzellisches Produkt gebühre. Die Wirkung des Elixiers hielte etwa eine halbe Stunde an und liesse sich am besten mit jenem Zustand bezeichnen, den seine Schäfchen aus der Seelsorge so oft suchten und so selten fänden: Seelenfrieden.
Herr Ehrensberger erzählte, wie elektrisiert er gewesen sei, als Bruder Thomas ihm vom letzten Eintrag in den Notizen von Gregorius erzählte: Er wolle sich nun, schrieb dieser, mit einem vielversprechenden jungen Mann zusammentun, der in Appenzell eben eine Spirituosenproduktion eröffnet habe, um festzustellen, ob sich sein Soma-Rezept auch für die Herstellung in grösserem Massstab eigne.
Herr Ehrensberger hatte nachgefragt, von wann diese Aufzeichnungen datieren, und Thomas hatte erklärt, der letzte Eintrag stamme aus dem Jahr 1902. Kurz darauf sei Bruder Gregorius, wie er dem klostereigenen Personalregister habe entnehmen können, überraschend an einer Infektionskrankheit gestorben. Ungefähr zur selben Zeit hatte der Gründer von Herrn Ehrensbergers Firma begonnen, eine erste Version des Appenzeller Alpenbitters herzustellen.
Zum Schluss seines Besuchs hatte Pater Thomas noch zwei Blatt Papier aus seiner Kuttentasche gezogen und sie Herrn Ehrensberger überreicht. Es handle sich dabei um das von Bruder Gregorius hinterlassene Rezept für sein Soma, nicht um die Originale natürlich, aber um Kopien. Er und das Kloster könnten damit nichts anfangen – er, Herr Ehrensberger, vielleicht schon. Sprach’s und war entschwunden.
Herr Ehrensberger blickte auf das erste Blatt und erstarrte. Darauf notiert waren fein säuberlich die lateinischen und die deutschen Namen von zweiundvierzig Kräutern, nebst genauen Mengenangaben für eine Mischung. Es handelte sich exakt um das sagenumwobene Rezept der Kräutermischung für den Appenzeller Alpenbitter. Dieses Rezept kannten nur zwei Menschen, und einer davon war Herr Ehrensberger. Nun wusste er, woher der Firmengründer das Rezept hatte. Er selbst hatte darüber laut Familiengeschichte nie gesprochen, und so musste sich das Unternehmen nach dem Tod des Gründers damit abfinden, dass sich die Spuren dieses Rezepts auf immer im Dunkeln verlieren würden. Bis zu diesem Moment.
Dann sah sich Herr
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