Mord im Nord
Wesentlich zu dieser nüchtern-pragmatischen Betrachtungsweise trug Heiri bei, der darauf hinwies, die Konkurrenz von Greyerzer bewerbe ihren Käse ja schon lange mit dem Argument, er beruhige das Gemüt. Warum also sollte es da keinen Appenzeller Käse geben, der Seelenfrieden schenkt?
Noch vor dem feierlichen Schlussritual wurde sich das Bewahrungskomitee einig, dass man die zufällige Entdeckung nicht begraben, sondern als Projekt weiterverfolgen wolle. Dabei wurde schnell klar, dass das nicht ohne zusätzliche Tests gehen würde. Einen Teil davon konnten die Mitglieder des Bewahrungskomitees selbst übernehmen, doch es brauchte unbedingt ein paar zusätzliche Testpersonen von ausserhalb, die unbefangen und neutral an die Sache gehen konnten.
Gleichzeitig war ebenso klar, dass das alles unter völliger Geheimhaltung ablaufen müsste, top secret sozusagen. Der «Appenzeller Secret», wie wir ihn schnell nannten, musste so lange, wie die weiteren Tests und Abklärungen dauerten, tatsächlich ein Geheimnis bleiben. Die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Wie aber sollte man ein Grüppchen von externen Testpersonen finden, das wirklich ein Geheimnis für sich bewahren konnte?
Ich hatte mich in den bisherigen Diskussionen eher zurückgehalten, weil ich mich als Frischling nicht aufdrängen wollte. Doch jetzt wagte ich einen schüchternen Vorschlag. Ich hätte vielleicht eine Lösung. Zufällig sei ich nicht nur Mitglied des ehrenwerten Geheimbundes namens Bewahrungskomitee, sondern zugleich Gründungsmitglied eines weiteren, allerdings gänzlich privaten Geheimbundes. Und da das Bewahren von Geheimnissen gleichsam zur Grundausstattung eines Geheimbundes gehöre, könnte ich mir gut vorstellen, diesen Kreis als Testrunde für den Appenzeller Secret zu nutzen. Nachdem ich das Nötigste zu diesem zweiten Geheimbund erläutert hatte, stimmte das Bewahrungskomitee einstimmig diesem Vorgehen zu und beauftragte mich abzuklären, ob die das überhaupt wollten. Falls ja, hätte ich freie Hand, die erforderlichen Tests durchzuführen.
Adelina staunte nicht schlecht, als sie von der Existenz eines zweiten Geheimbundes erfuhr, dem ich angehörte, und schaltete natürlich blitzschnell: Endlich kamen offenbar Hans und die Beerdigungsgäste ins Spiel, die ich entgegen meiner Beteuerungen doch kannte. Ich bestätigte ihr diese Vermutung und versprach, nach einer kurzen Pause mit meiner Geschichte fortzufahren.
Geheimbund im Wartestand
Nachdem wir Leib und Seele verköstigt hatten, legte ich wieder los.
Ich muss gleich noch ein Geständnis machen. Durch meine Mitwirkung im Bewahrungskomitee bin ich auf den Geschmack gekommen. Auf den Geschmack von Geheimbünden und geheimnisvollen Logen mit festen Regeln und Ritualen. Und das passiert ausgerechnet mir, dem grossen Solisten und Einzelgänger, der sich um keinen Preis der Welt in feste Strukturen einordnen und fremden Regeln unterwerfen will! Auch im fortgeschrittenen Alter kann man in sich noch unerwartete Seiten entdecken, Teilpersönlichkeiten, die vermutlich immer da waren, bisher aber zu kurz kamen und deshalb jetzt endlich auch mitspielen wollen.
Oft braucht es einen Anstoss von aussen, um einer solchen Teilpersönlichkeit ihren Auftritt auf jener inneren Bühne zu ermöglichen, die das Schauspiel unserer Gesamtpersönlichkeit aufführt. So war es mit meiner Aufnahme in das Bewahrungskomitee, die ja wesentlich auf einer Zufallsauswahl beruhte. Und so war es auch das zweite Mal. Auch dabei spielte der Zufall eine grosse Rolle.
Es geschah auf einem Geburtstagsfest. Eine gute Bekannte von mir feierte nicht weit von hier ihren Sechzigsten – ja, wenn man selbst so um die sechzig ist, häufen sich Sechzigjährige im Freundeskreis naturgemäss. Die meisten Gäste waren schon gegangen, die Gastgeber waren bereits am Aufräumen, nur ein Fähnlein von Aufrechten sass noch zusammen. Es waren jene Gäste, die den kürzesten Weg hatten und dafür kein Auto brauchten, weshalb sie sich guten Gewissens noch ein Gläschen des köstlichen Rotweins genehmigen konnten und wollten, den die grosszügigen Gastgeber in mehr als ausreichenden Mengen aufgetischt hatten.
Die sechs Menschen, die mit mir noch zusammensassen, übernachteten alle im nahen Landgasthof «Hirschen». Sie hatten ihre Autos dort stehen lassen. Auch mein Nachhauseweg war überschaubar. Zudem war es Samstagabend, alle konnten am nächsten Morgen ausschlafen, es gab keinen Grund für einen überstürzten Aufbruch. Die
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