Mord im Nord
Gastgeber verkündeten, sie würden sich jetzt schlafen legen, ermunterten uns aber, ruhig weiterzumachen, solange wir Lust hätten. Unser Tisch stünde im Garten so weit weg von ihrem Schlafzimmerfenster, dass unser Gespräch sie nicht stören würde, und Tranksame sei auch genug vorhanden.
Es war ein Fähnlein von sieben Aufrechten, drei Frauen und vier Männern. Die meisten kannte ich übrigens damals noch nicht oder jedenfalls nur flüchtig, und zwischen den anderen hatte es bis dahin auch nur wenige Berührungspunkte gegeben. Eine Gemeinsamkeit stellten wir allerdings bald fest: Alle lebten seit etlichen Jahren im Appenzellerland, wenn auch die wenigsten hier geboren waren.
Als wir ein Weilchen über die Gründe der Wahl unseres gemeinsamen Lebensortes geplaudert hatten, merkte Hans, der sich als Historiker vorgestellt hatte, an, etwas, was ihn am Appenzellerland fasziniere, sei, dass man hier immer wieder über skurrile Geschichten stolpere. Erst gestern sei er bei einer lokalhistorischen Recherche im Internet auf eine nicht mehr ganz taufrische Meldung gestossen, und die hätte ihn so beeindruckt, dass er sie ausgedruckt und sogar eingesteckt habe.
Er zog ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Jackentasche, entfaltete es und las die kurze Meldung mit seiner vertrauenerweckenden Bassstimme vor:
Letzte Illuminaten leben im Appenzell – Der Geheimbund der Illuminaten, Objekt unzähliger Verschwörungstheorien, existiert nach wie vor. – Adalbert Schmid (61), wohnhaft im appenzellischen Stein, gab dem ‹SonntagsBlick› Auskunft über das jahrhundertealte Erbe «seines» Geheimbunds: ‹Ja, wir hier in Stein sind die letzten Mitglieder des Ordens›, bestätigt er. ‹Wir sind keine Weltverschwörer. Der haarsträubende Unsinn, der im Film verbreitet wird, hat nichts mit uns zu tun.› Durch ‹Angels & Demons› sieht er sich genötigt, seine Organisation zu erklären: Der 1776 vom Philosophen Adam Weishaupt in Ingolstadt (D) gegründete Orden widme sich der Alchemie, der Traumdeutung und den Geheimwissenschaften.
Ehe ich meine Zunge im Zaum halten konnte, warf ich ein, es handle sich bei dieser seit Langem bekannten obskuren Gruppe keineswegs um den einzigen Geheimbund im Appenzellerland. Natürlich wurden die anderen sofort neugierig und fragten, woher ich das wüsste. Zum Glück konnte ich die Antwort, das sei mir aus eigener Erfahrung bekannt, gerade noch runterschlucken und mich in die Erklärung flüchten, als früherer Lokaljournalist seien mir allerhand Gerüchte zu Ohren gekommen, doch mehr als Gerüchte hätte ich leider auch nicht zu bieten.
Über die Frage, warum Geheimbünde eine derartige Faszination ausüben, entspann sich eine lebhafte Diskussion, in welcher alle Beteiligten ihre persönlichen Standpunkte einbrachten, aus denen sich aber bald ein gemeinsames Bild entwickelte. Wir waren uns einig, dass das Angezogensein durch Geheimnisse aller Art zur menschlichen Grundausstattung gehört und schon in früher Kindheit sichtbar wird. Etwas zu wissen, was nicht alle wissen, oder gar zu wissen, dass es Wissen gibt, das wir nicht wissen können oder dürfen, zieht uns an, weil es unsere Neugier weckt und anstachelt. Und was wäre geheimnisvoller als ein Geheimbund?
Zusätzlich besticht das Modell Geheimbund gerade in unserer Zeit, weil es das ideale Gegenmodell ist. Unsere Zeit ist geprägt von der Auflösung aller Gewissheiten. Alles ist möglich, ständig stehen wir vor der Qual der Wahl. Es gibt keine fixen Regeln mehr und ebenso wenig feste Werte. Grenzen verwischen, und all das führt zu einem zunehmenden Verlust an so wichtigen geistig-seelischen Ressourcen wie Identität, Orientierung und Sinn.
Simplere Gemüter greifen in einer solchen Situation nach den schrecklich vereinfachenden Erklärungen von Sekten oder populistischen Politikern: Schuld sind immer die anderen, vorzugsweise die Ausländer oder wahlweise auch die bösen Bonzen. Anspruchsvollere Geister wissen, dass die Welt zu komplex ist, um sie so simpel erklären zu können. Doch auch sie sehnen sich, manchmal uneingestanden und manchmal offen, nach einer klaren Weltsicht, nach verbindlichen Werten und Regeln, nach eindeutigen Grenzen zwischen innen und aussen. All das bietet das Modell Geheimbund, weshalb es kein Wunder ist, dass sich viele davon einen Zuwachs an Identität, Orientierung und Sinn erhoffen.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs fanden wir heraus, dass uns diese Erklärung nicht nur theoretisch überzeugte,
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