Mord im Nord
Ehrensberger das zweite Blatt an. Dort standen, ebenfalls mit Mengenangaben, ein dreiundvierzigstes Kraut sowie mehrere Pilze und Wurzeln. Darunter wiederum fanden sich detaillierte Angaben über die Behandlung der Kräuter, über Extraktionen und Destillationen sowie über Filtrierung.
Herr Ehrensberger war zwar kein ausgebildeter Schnapsbrenner, doch hatte er im Laufe der zwanzig Jahre, in denen er das Unternehmen mit geführt hatte, so viel über Herstellungsmethoden gelernt, dass er sofort die Genialität in dieser Herstellungsmethode erkannte. Das Endprodukt würde die besten Geschmackselemente verschiedener Spirituosen in sich vereinigen. Und es würde zur Ausbalancierung der bitteren Geschmacksanteile keinen Zucker brauchen. Die Firmenpioniere hatten das einige Male vergeblich versucht, bis sie dann vor vielen Jahrzehnten fanden, einen besseren Kompromiss gebe es nicht, und das Rezept fortan unverändert liessen.
Auch so hatte sich der Alpenbitter prächtig entwickelt, doch Herr Ehrensberger wusste natürlich, dass es potenzielle Kundinnen und Kunden gab, für die der unvermeidliche Zucker zu süss und zu klebrig wirkte, so wie es umgekehrt welche gab, denen der Geschmack immer noch zu bitter war. Mit diesem Rezept, erkannte er sofort, liesse sich der Kundenkreis beträchtlich ausweiten.
Das zweite Blatt war im Gegensatz zum ersten offenkundig nie in die Hände des Firmenpatriarchen gelangt, sonst hätte dieser ohne Zweifel das ganze Rezept ausprobiert. Ob das nun geschehen war, weil der Mönch ein gesundes Misstrauen pflegte oder wegen eines dummen Zufalls, liess sich nicht mehr eruieren und war nicht mehr wichtig. Jetzt hatte er das ganze Rezept in Händen und brannte darauf, es auszuprobieren.
Nachdem er ihm einen tüchtigen Bonus versprochen hatte, erklärte sich sein Chefbrenner bereit, das Rezept in die Tat umzusetzen, ohne zunächst andere zu informieren. Das Ergebnis entsprach den hohen Erwartungen von Herrn Ehrensberger. Nicht nur geschmacklich, das auch, aber der alte Mönch hatte in Sachen Wirkung nicht übertrieben: Dieses neue Destillat verschaffte einem für eine halbe Stunde tatsächlich Seelenfrieden.
In seinem Überschwang gab Herr Ehrensberger den Trank den übrigen Entscheidungsträgern seiner Firma sofort zum Testen. Das Ergebnis war ernüchternd. Die Testpersonen berichteten zwar übereinstimmend von einer gewissen «Rauschigkeit», doch da sich dieser veränderte Bewusstseinszustand deutlich von der alkoholbedingten Beschwingtheit oder Dumpfheit unterschied, wirkte er auf diese Traditionalisten, die sich einer neuen Erfahrung ungern öffnen, fremdartig und damit unheimlich. Schnell kam das böse Wort «Drogen» auf, und davon wollten die anderen Entscheidungsträger die Finger lassen. Schon mal hätte ein Destillat mit einer deutlich bewusstseinsverändernden Wirkung üble Probleme verursacht, nämlich der Absinth, und auf ein solches Risiko wollten sie sich auf keinen Fall einlassen.
Damit war das Projekt «Soma» beerdigt. Immerhin gelang es Herrn Ehrensberger, die paar Flaschen, die von der Testproduktion übrig geblieben waren, zu retten. Und aus diesem Vorrat war dann eben durch einen ähnlich dummen Fehler eine Flasche zum erwähnten Käser gelangt. Dieser hatte das Dutzend Laibe damit eingerieben, und so war offenbar die ganze Wirkung von Soma auf den Käse übergegangen. Denn das, schloss Herr Ehrensberger seine Geschichte, was er eben erlebt habe, gleiche aufs Haar der Wirkung, die er von Soma kenne.
Nachdem das restliche Bewahrungskomitee die Geschichte unter gütiger Mithilfe einer Runde gut mit Appenzeller Alpenbitter gefüllter Gläser – normalem, wie Herr Ehrensberger versicherte – halbwegs verdaut hatte, entspann sich eine lebhafte Diskussion über die Konsequenzen der eben gemachten Entdeckung. Bald wurde klar, dass die Grundstimmung, anders als bei den Alpenbitter-Verantwortlichen, eine positive war. Die durch den Genuss dieses speziellen Stücks Appenzeller Käse ausgelöste Erfahrung von Seelenfrieden wurde einhellig positiv bewertet. Nicht unbedingt als das, was man dauerhaft wollen oder auch nur ertragen würde, aber als gelegentliche Tankstelle für die Seele, als sporadische Erfahrung, um immer wieder mal Kraft und Gelassenheit zu schöpfen, konnten sich das alle gut vorstellen.
Warum also sollte man diese Wirkung anderen vorenthalten? Und warum sollte man sich die Verdienstmöglichkeiten, die sich aus der Entdeckung zweifellos ergaben, sausen lassen?
Weitere Kostenlose Bücher