Mord im Nord
Malheur passiert wie jetzt. Man habe ihm eine falsche Flasche ausgeliefert. Als man das Wochen später endlich gemerkt hatte, war es schon zu spät, ein Dutzend Laibe war mit der falschen Flüssigkeit behandelt worden, aber zum Glück noch nicht ausgeliefert. Herrn Ehrensbergers Firma kaufte alle Laibe anstandslos, um sie vorläufig sicher aufzubewahren. Dass das nicht geklappt hätte, täte ihm wirklich leid.
Es sei ja nichts Schlimmes geschehen, beruhigte ihn Heiri, im Gegenteil, während Moritz brummte, noch lieber als Schuldgefühle wäre ihm eine Aufklärung darüber, was denn in der falschen Flasche gewesen sei und was das mit dem Erlebnis von eben zu tun habe. Herr Ehrensberger liess sich überzeugen, die ganze Geschichte zu erzählen, wir seien ja hier in einer Geheimgesellschaft, weshalb die Geschichte nicht nach draussen dringen könne.
An dieser Stelle meiner Erzählung stöhnte Adelina, es sei langsam genug mit den Geschichten in der Geschichte, das sei ja alles so verschachtelt, dass sie kaum noch mitkomme. Geduldig erläuterte ich ihr, dass nach meiner Erfahrung das Leben nun mal aus ineinander verschachtelten Geschichten bestehe und dass es keinen anderen Weg gebe, darüber einen Überblick zu gewinnen, als jede einzelne Schachtel behutsam und geduldig zu erforschen. Adelina war von meinem philosophischen Exkurs nicht sonderlich überzeugt, erklärte sich aber bereit, die Geschichte anzuhören, die Herr Ehrensberger etwa so erzählt hatte:
Vor einigen Monaten sei ein sicher über achtzigjähriger Mann in sein Büro gekommen, der sich als Pater Thomas aus dem mitten in Appenzell gelegenen Kapuzinerkloster vorstellte. Er gehöre zu den acht Brüdern, die von der einst blühenden Mönchsschar übrig geblieben seien, und müsse nun, nachdem das Kloster wegen Nachwuchsmangels geschlossen werde, anderswohin ziehen.
Herr Ehrensberger hatte von der Auflösung des Klosters gehört und bedauerte den alten Mönch, doch der erklärte, er sei Ortswechsel gewöhnt und brauche kein Mitleid. Hingegen sei er beim Aufräumen des Klosterarchivs, das er, der staubige Dokumente liebe, freiwillig auf sich genommen habe, auf etwas gestossen, das ihn, also Herrn Ehrensberger, interessieren könnte.
Es handelte sich um eine schmale Schachtel, welche die schriftliche Hinterlassenschaft eines Mönchs beinhalte, der um die vorletzte Jahrhundertwende im Kapuzinerkloster in Appenzell gelebt hat. Bruder Gregorius habe er geheissen, erklärte Herr Ehrensbergers Besucher, mehr tue nichts zur Sache, und um die Privatsphäre dieses Gregorius zu schützen, könne er auf das meiste nicht weiter eingehen. Hingegen habe er ein Schriftstück gefunden, aus mehreren Seiten bestehend, die sorgfältig zusammengenäht worden waren. Auf der ersten Seite habe nur der Titel gestanden: «Salus Operatus Materiae Appenzelliensis».
Das sei zwar kein lupenreines Latein gewesen, habe Bruder Thomas erklärt, aber die Bedeutung sei ohne Weiteres klar gewesen: Heil, das aus appenzellischen Materialien gemacht ist. Zudem habe er rasch gemerkt, dass die Anfangsbuchstaben der vier Wörter zusammen ein neues sinnvolles Wort bildeten: Soma.
Herr Ehrensberger hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, bei ihm nicht ganz geläufigen Begriffen erst einmal bei Wikipedia reinzuschauen, und das tat er, mit Zustimmung von Bruder Thomas, auch jetzt. Er überflog den Eintrag und las daraus einige Abschnitte vor, wobei der Mönch einige Male bedächtig mit dem Kopf nickte.
Der Rigveda, von dem im Wikipedia-Beitrag über Soma die Rede war, gehörte, wie Herr Ehrensberger wusste, zu den ältesten und wichtigsten Schriften des Hinduismus. Was er nicht wusste, ihm aber von Bruder Thomas erklärt wurde, war, dass der Rigveda Ende des neunzehnten Jahrhunderts zunächst ins Lateinische und dann bald darauf ins Deutsche übersetzt worden war, was bedeutete, dass Bruder Gregorius ihn gekannt haben konnte. Tatsächlich hatte Thomas in der Klosterbibliothek ein offenbar oft genutztes Exemplar der deutschen Erstausgabe von 1876 gefunden. Schon beim ersten Durchblättern war ihm klar geworden, dass sich Gregorius intensiv mit den Passagen über Soma beschäftigt hatte: Eselsohren und Unterstreichungen häuften sich da besonders.
In kurz gefassten Notizen, die er Herrn Ehrensberger leider nicht geben könne, habe Gregorius tatsächlich davon geschrieben, wie sehr ihn die Idee von Soma fasziniert und gepackt hätte. Mit einem Trank das nach Wahrheit suchende innere Auge des Sehers
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