Mord im Nord
sondern auch persönlich. Alle waren wir ehrlich genug zuzugeben, dass es in irgendeinem Winkel unserer Persönlichkeit etwas gebe, das von der Idee des Geheimbunds fasziniert war – und sei es nur die nostalgische Erinnerung an jugendliche Pfadfinderromantik. Deshalb war es eigentlich keine Überraschung, dass plötzlich jemand – ich weiss beim besten Willen nicht mehr, wer es war – die entscheidende Frage in die Runde warf: «Warum gründen wir nicht unseren eigenen Geheimbund?»
Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Dann hörte man zunächst ein leise geräuspertes «Warum eigentlich nicht?», daraufhin ein schon etwas lauteres «Eigentlich eine gute Idee …» und schliesslich ein überzeugtes «Auf geht’s!».
Nachdem so auch ohne formale Abstimmung der Grundsatzentscheid gefällt worden war, fand sich noch eine letzte Flasche Wein, worauf wir uns gegenseitig zuprosteten und auf die Gründung unseres Geheimbundes anstiessen. Wir werweissten noch ein Weilchen, wie genau dieser aussehen konnte, merkten dann aber bald, dass die zunehmende Müdigkeit unserer Kreativität Grenzen setzte, und beschlossen, das Gespräch bis zum gemeinsamen Frühstück im «Hirschen» am nächsten Morgen zu vertagen.
Bevor wir aufbrachen, ergriff Gertrud, die Psychologin, das Wort und gab uns noch einen wichtigen Hinweis mit auf den Weg. Ihr sei aufgefallen, dass die ganzen Diskussionen, die wir an diesem Abend führten, einen ausgesprochen philosophischen Unterton hatten. Sie seien geprägt gewesen von einem Geist des Hinterfragens, des Suchens nach Zusammenhängen und Querbezügen, des sorgsamen Umgangs mit der Sprache, des konstruktiven Zweifels, des gegenseitigen Respekts und des gemeinsamen Willens, unterschiedliche Perspektiven zu einer neuen Gesamtsicht zu vereinen. Kurzum, sie habe den Eindruck, wir alle seien, obwohl sich niemand offiziell mit Philosophie beschäftige, im Grunde unseres Geistes und Herzens verkappte Philosophinnen und Philosophen.
Schon halb im Aufstehen begriffen, sahen wir uns gegenseitig an und mussten zugeben, dass diese Diagnose zutraf. Woraufhin Gertrud abschliessend meinte, wenn schon die Illuminaten von einem Philosophen gegründet worden seien, könnte unser Geheimbund doch einfach auch gleich ein philosophischer sein.
Das Frühstück brachte keine neuen Erkenntnisse. Doch am ersten Wochenende, an dem wir uns wieder trafen, ergab sich als Thema für die aufwärmende Diskussionsrunde ganz organisch das Philosophieren über Philosophie. Dabei kam unweigerlich auch die Idee des grossen griechischen Philosophen Plato zur Sprache, der nicht viel von Demokratie hielt, sondern sich lieber einen Philosophen-Staat ausmalte, also ein Gemeinwesen, das von Philosophen gelenkt wird. Das erschien uns als reichlich absurder Gedanke, käme doch ein Philosoph, der seinen Job ernst nimmt, vor lauter Grübeln und Hinterfragen gar nicht zum Regieren. Und ein Philosoph, der genau wüsste, was für seinen Staat richtig und was falsch ist, hätte seinen Beruf ebenfalls verfehlt.
Adelina hatte schon eine ganze Weile unruhig gewirkt. Jetzt hielt sie es endgültig nicht mehr aus und forderte mich deutlich auf, mich nicht in philosophischen Abschweifungen zu verlieren. Das seien zwar unter anderen Umständen möglicherweise interessante Seitenpfade, doch sie wolle lieber wissen, wie denn dieser obskure Geheimbund dazu gekommen sei, den Appenzeller Secret zu testen.
Ich musste mich erst mal einen Moment lang sammeln. Natürlich hätte ich lieber die ausführliche Version der Geschichte erzählt, musste jedoch einsehen, dass das wohl besser ein anderes Mal geschehen würde. So kam Adelina vorläufig nur in den Genuss der nicht ganz so ausführlichen Version.
Die kleine Denkpause hatte mir gutgetan. Ich konnte jetzt, aus einer gewissen Distanz, zugeben, dass unser Geheimbund höchstens einer in Anführungszeichen war, also ein «Geheimbund». Eigentlich war es einfach ein netter Gesprächskreis von Menschen, die sich durch gemeinsame Interessen und biographische Erfahrungen verbunden fühlten.
Statt mit «Geheimbund» hätte man diesen Kreis auch als Altachtundsechziger-Grüppchen bezeichnen können. Schliesslich waren wir alle so um die sechzig Jahre alt und damit Angehörige jener Generation, die man gemeinhin die Achtundsechziger nennt – mit Ausnahme von Hans, der erst Mitte vierzig war. Wir stimmten darin überein, dass dieses Symbol viel zu kurz greift, zum Beispiel weil es damals nicht nur um
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