Mord im Nord
genau hinhört, merkt man, dass diese Klänge keineswegs einförmig oder stabil oder gar monoton sind, vielmehr verändern sie sich immer wieder subtil, weil das Wasser nie genau dieselben Fliessmuster bildet. In diesen Veränderungen von Tonhöhen und Lautfarben, von Intensität und Lautstärke scheinen Muster, scheint eine Ordnung zu stecken, doch diese Muster sind nicht gleichförmig, sondern verändern sich stets nach der Art chaotischer Ordnungen.
Diese, so wusste Hans zu berichten, dessen historische Interessen auch die neuere Wissenschaftsgeschichte einschlossen, gebe es sehr wohl. Chaotische Muster seien eine Art Zwischenwelt zwischen den uns bekannten stabilen Mustern, zum Beispiel in unserer üblichen euklidischen Geometrie und dem nackten Zufall. Diese Zwischenwelt sei nach seiner Auffassung bedeutend grösser und wichtiger als die beiden Welten am Rand.
Bevor die Männer sich in eine theoretische Diskussion über Chaostheorie verstricken konnten, rettete Agatha die Situation mit der Bemerkung, über eben diese Zwischenwelt habe uns der Bach gerade auf seine Weise alles Wissenswerte erzählt. Die Botschaft kam an, und so konnten wir uns auf die Durchführung unseres Tests vorbereiten.
Ich schnitt mit einem grossen Messer möglichst gleichmässige Stücke vom mitgebrachten Viertellaib Appenzeller Secret und verteilte diese unter allen Anwesenden. Dazu gab es Appenzeller Mineralwasser, sonst nichts. Alle wussten aus der Vorbesprechung, dass es etwa eine Stunde dauern würde, bis wir eine allfällige Wirkung spüren würden, und assen jetzt schweigend und ruhig unseren Käse. Auf die Bildung eines sitzenden Kreises hatten wir bewusst verzichtet, jede und jeder sollte die Erfahrung auf eigene Weise machen.
Hätte uns jemand während dieser Stunde beobachtet, so hätte er sieben Menschen gesehen, die in unterschiedlicher Entfernung vom Wasser sassen oder lagen. Einige davon, darunter auch ich, standen zwischenzeitlich auf und gingen ein paar Schritte abseits, um die anderen nicht zu stören. Das einzig Auffällige war, dass während dieser Zeit kein Wort gesprochen wurde – auch das hatten wir vorher so ausgemacht.
Nach etwa einer Stunde hörten die Bewegungen auf. Alle sassen oder lagen jetzt, um sich während der angekündigten halben Stunde Wirkungszeit möglichst ungestört selbst beobachten und spüren zu können. Danach kamen alle zusammen und setzten sich im Kreis, wie wir es vorbesprochen hatten.
An diese Absprache erinnerte uns nach Ablauf der eineinhalb Stunden, als die ersten losreden wollten, auch Peter. Er als Sozialwissenschaftler und grosser Statistik-Fan, «auch aus Zahlen kann man Leben lesen», pflegte er zu sagen, hatte darauf bestanden, dass wir unsere ersten Eindrücke in einem standardisierten Fragebogen äussern sollten. Solche standardisierten Messinstrumente würden einerseits die Realität brutal beschneiden, seien aber andererseits die einzige Möglichkeit, subjektives Erleben miteinander zu vergleichen und so zu Erkenntnissen zu kommen. Wir hatten uns breitschlagen lassen, um unserem Experiment für alle Fälle auch schon mal die höheren wissenschaftlichen Weihen zu verleihen, und so füllten wir zunächst brav unsere Fragebogen aus, die Peter in seinem Rucksack samt dazugehöriger Bleistifte mitgeschleppt hatte.
Die Grenzen der statistischen Methoden zeigten sich, als während und nach dem Fragebogenausfüllen einer nach dem anderen sich in die Büsche schlug, um einem dringenden Bedürfnis nachzugeben. Auf die Idee, bei der Frage nach allfälligen Nebenwirkungen die Antwort «Harndrang» vorzusehen, war Peter nicht gekommen, und wie sich herausstellte, hatten wir zwar alle diese Nebenwirkung von Appenzeller Secret verspürt, sie jedoch als persönliches Problem betrachtet und deshalb nicht als Nebenwirkung angeführt. Erst durch offenkundige Beobachtungsergebnisse hatten wir festgestellt, dass Harndrang eine allgemeine Nebenwirkung war, was wir allerdings schnell als vielleicht lästiges, aber keineswegs gravierendes Problemchen identifizierten.
Verglichen mit der Hauptwirkung war das ein Klacks. Reihum nämlich berichteten jetzt alle von einer ausgesprochen positiven Erfahrung. Agatha brachte es auf den Punkt. Das Erlebnis erinnere sie an das, was Hermann Hesse in seinem «Glasperlenspiel» als die Erfahrung des Erwachens bezeichnet habe. Damit sei nicht das normale Erwachen gemeint, sondern eines auf einer höheren Ebene. Sie jedenfalls habe die volle Klarheit und
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