Mord im Nord
platzieren.
Bevor wir uns solcherart an Leib und Seele gestärkt an den Abstieg machten, erläuterte ich kurz die Wahl meines Ortes für diesen Nachmittag. An der Wahl eines Baches sei wohl auch mein Sternzeichen schuld. Wohl würde ich nicht im eigentlichen Sinne an Astrologie glauben, doch gebe es darin Elemente, von denen ich zugeben müsse, es könnte was dran sein. Dazu gehöre die Zuordnung des Sternzeichens Krebs zum Element Wasser, und zwar eben nicht zu Fluss oder Meer, sondern zu Quelle und Bach. Ob dem nun so sei oder nicht, ich jedenfalls fühlte mich immer wieder zu kleineren oder grösseren Bächen hingezogen und würde diese als Kraftquelle erleben.
So hübsch ich Bergbäche fände, die sich durch nackte Alpweiden schlängelten oder sich über ebenso nackte Felswände stürzten, so sehr fände ich es am schönsten, wenn Bäche durch bewaldete Tobel und Schluchten flössen. Für mich, so erklärte ich, gehörten Bach und Wald zusammen, und davon fänden sich im Appenzellerland zum Glück reichlich. Als im frühen Mittelalter die ersten Besiedler des Appenzellerlands dem Siedlungsdruck im fruchtbareren Unterland gegen oben auswichen, fanden sie ausschliesslich dichte Wälder vor, die vorwiegend aus Nadelhölzern bestanden, die sie erst mühsam roden mussten, um Weideland für ihr Vieh zu schaffen.
Wo früher das dunkle Grün der Wälder die ganze Landschaft beherrscht hatte, wurde nun allmählich das helle Grün der Wiesen zur dominanten Farbe, unterbrochen nur von den dunkelgrünen Resten des Waldes. Diesen hatten die rodenden Vorfahren überall dort stehen lassen, wo das Gelände für Kühe und Heuer zu steil war, und diese steilen Abhänge befanden sich vorzugsweise an Bergflanken und an den Seitenwänden der Bachschluchten. So kam es, dass die meisten Appenzeller Bäche durch eine wilde Waldlandschaft fliessen.
Wild nicht nur deshalb, weil diese Wälder kaum bewirtschaftet werden, sondern auch, weil diese Abhänge lebendig sind und sich immer wieder verändern. Bei heftigen Gewittern rutscht schon mal ein Stück runter in den Bach, und so kommt es, dass immer wieder mal ein umgestürzter Baum eine natürliche Brücke über einen Bachlauf bildet.
In einer solchen Landschaft befanden wir uns nun. Nur noch eine kaum sichtbare Wegspur schlängelte sich den Bach entlang, immer wieder Haken um einen umgestürzten Baum oder einen heruntergerollten Felsen schlagend. Bis hierher drang kein Sonnenstrahl, und die von Feuchtigkeit gesättigte Luft hätte uns frösteln lassen, wenn nicht das anstrengende Gehen für Kompensation gesorgt hätte.
Schon bald sahen wir unser Ziel. An dieser Stelle beschrieb der Bach eine Kurve. An deren Aussenseite fiel der Abhang steil direkt am Bachufer ab, doch zum Ausgleich hatte der Bach an der Innenseite der Kurve eine fast flache Sandbank abgelagert, die uns für die folgenden Stunden einen bequemen Lagerplatz anbieten würde. Der Bach war an dieser Stelle so breit, dass der Wald eine ausreichend grosse Lücke offen liess, um die Sonne zu dieser frühnachmittäglichen Stunde bis an den Talgrund scheinen zu lassen. Wer wollte, konnte sich an die Sonne setzen oder legen, und auch für die Liebhaber des Schattens oder Halbschattens gab es genügend bequeme Plätze.
Vor dem letzten Wegstück bat ich meine Gefährten, ganz still zu sein, langsam den Bach entlangzuschreiten und einfach nur auf seine Klänge zu hören, was sie bereitwillig taten. Auch ich lauschte, und obwohl ich diese Übung in Achtsamkeit an dieser Stelle schon oft gemacht hatte, war ich wieder überwältigt von der Vielfalt dieser Klänge. Durch das langsame Gehen erreichten von vorne immer wieder neue Geräusche meine Ohren, während die hinter mir allmählich verklangen.
Wie meine Gefährtinnen und Gefährten nach der Ankunft an unserer Stelle bestätigten, dauert es immer eine Weile, bis man aus dem anfangs einheitlich und monoton klingenden Rauschen des Baches einzelne Klänge heraushört. Allmählich jedoch wird das Spektrum dieser Klänge immer breiter und feiner. Auf einmal rauscht der Bach nicht mehr einfach, vielmehr gluckst und murmelt er, klappert und rattert, plaudert und blubbert, plätschert und tost. Wo er senkrecht einen Felsen hinunterstürzt, sind die Klänge des Baches ungestüm und laut, und dort, wo er ein paar Meter lang eben dahinfliesst, hört man nur ein winziges Wispern.
Manche Töne sind hoch und beinahe schon schrill, andere brummen im beruhigenden Bass. Wenn man eine Weile
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