Mord im Nord
heisst, was er von mir wolle. Ihr erster Gedanke sei gewesen, es ginge wieder um ein Geheimrezept. Ein solches sei ja tatsächlich im Spiel, nämlich die Abwandlung des Alpenbitters zu «Soma».
Ich dachte eine Weile nach, bis mich Adelina bat, sie an meinen Gedanken teilhaben zu lassen. Überlegt hatte ich mir, was es einem Nahrungs-Multi nützen würde, dieses Geheimrezept zu kennen, und war zum Schluss gekommen: nicht viel. Wie ich Adelina erst jetzt erzählte, hatte es Versuche gegeben, anderen Käse als Appenzeller Käse in einem anderen Reifungsstadium mit «Soma» einzureiben, um dieselbe Wirkung wie beim Appenzeller Secret zu erzielen. Doch es hatte sich schnell gezeigt, dass der fragliche Käser, ob durch Zufall oder Genialität sei dahingestellt, die einzig mögliche Produktionsweise gefunden hatte, nämlich die erwähnte Einreibung während der letzten sieben Wochen der Reifung eines voll ausgereiften Appenzellers. Selbst wenn also jemand «Soma» zur Verfügung hätte, bräuchte er das Geheimrezept der Kräutersulz, und das ist bekanntlich besser geschützt als Fort Knox.
Und zweitens, fuhr ich fort, selbst wenn wir mal annähmen, der geheimnisvolle unbekannte Multi hätte auch dieses Rezept, würde ihm das nicht viel nützen, denn Appenzeller Käse ist eine geschützte Marke. Wenn der Multi das Ganze einfach aufkaufen würde, könnte er die Menge wegen des begrenzten Produktionsgebiets nicht wesentlich erhöhen. Der ganze Umsatz von Appenzeller Käse jedoch ist für einen Nahrungs-Multi ein Klacks, der kaum zur Gewinnsteigerung beitragen könnte.
Adelina fand meine Argumentationskette schlüssig. Es sei tatsächlich kaum vorstellbar, dass ein solcher Konzern ein Interesse daran haben könnte, an das Geheimrezept von «Soma» zu kommen, um damit selber Appenzeller Secret zu produzieren. Es müsse also eine andere Absicht hinter der Drohung stecken. Ihr käme dabei in den Sinn, dass es immer wieder Gerüchte gebe, wonach grosse Konzerne ordentliche Summen an potenzielle Konkurrenten zahlten, damit diese ihre Erfindung oder Entwicklung gar nicht erst auf den Markt bringen.
Ja, musste ich zugestehen, in diese Richtung könnte es gehen. Wenn der Appenzeller Secret tatsächlich auf den Markt käme, sinnierte ich laut vor mich hin, dann wäre das für die künftigen Anbieter von Glücks-Tomatensauce und ähnlichen Stimmungsaufhellern aus der Dose oder Tüte eine ordentliche Blamage. Nicht, weil ihnen das gross Marktanteile wegknabbern würde. Schon die schiere Tatsache, dass ein vollständig natürliches Lebens- und Genussmittel Seelenfrieden schenkt und damit als «Functional Food» genau so gut oder besser taugt als industriell gefertigte und mit künstlichen Zusätzen aufgepeppte Massenware – und das vermutlich erst noch deutlich preisgünstiger –, wäre für die Nahrungsmittelindustrie ein Stachel im Fleisch.
Appenzeller Secret würde dafür stehen, dass es auch anders geht. Einfacher. Natürlicher. Nachhaltiger. Gesünder. Günstiger. Das würde auf der anderen Seite das Bild in den Köpfen der Konsumenten von künstlichem Functional Food abwerten, der Imageschaden wäre beträchtlich, was die langfristigen Gewinnaussichten durchaus schmälern könnte. So gesehen müsste die andere Seite tatsächlich ein vitales Interesse daran haben, dass das Projekt «Soma» nie realisiert wird.
Ferner sei davon auszugehen, dass ein solcher Gegner über einen sehr guten Informationsdienst verfüge. Er würde also wissen, dass die Appenzeller sture Dickschädel sind, die sich auch mit einer noch so hohen Summe niemals das Recht abkaufen lassen würden, den Käse herzustellen und zu verkaufen, den sie wollten, und sei es ein Appenzeller, der Seelenfrieden bringt. Nein, gerade diese Mischung aus Dienst an der Menschheit und gesundem Erwerbsstreben würde die Appenzeller mit Bestimmtheit am Plan festhalten lassen, Appenzeller Secret auf den Markt zu bringen und daran gut zu verdienen. Plan A, den potenziellen Konkurrenten zu kaufen, sei also zum vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, weshalb Plan B, der mit der massiven Drohung, wohl vorgezogen worden sei.
Das leuchtete auch Adelina ein. Absicht der Drohung war es, das Projekt zu stoppen. Nur die Vorstellung, der Absender stamme aus der Nahrungsmittelindustrie, irritiere sie noch, sagte sie grübelnd. Dieser Industriezweig stünde schliesslich unter besonders kritischer Beobachtung durch Kunden und Öffentlichkeit, da sei jeder Skandal sehr gefährlich. Sie
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