Mord im Nord
zu vergleichen, welche die fatale Folge hat, dass daraus Neid erwächst, unser Festklammern an der Vergangenheit, unsere kurzsichtigen Perspektiven. Stattdessen müsste dieses Ding bewirken, dass wir unseren eigenen Standpunkt in neuer Klarheit erleben und zugleich neugieriger und offener für andere Standpunkte werden. Es sollte ein souveränes und gelassenes Ruhen in uns selbst bewirken und zugleich den Respekt für andere und für unsere Umwelt stärken. Es sollte einen runden Weitblick bewirken und uns zugleich tief in der Erde verwurzeln. Es sollte den Geist erheben und zugleich die Seele vertiefen. Und es müsste uns gesunden Stolz auf uns selbst und zugleich Bescheidenheit dem Unabänderlichen gegenüber schenken. Natürlich alles ohne schädliche Nebenwirkungen und Suchtgefahren.
An dieser Stelle griff ich ein und erklärte, ich hätte da vielleicht was. Ich sei auf Wegen und Umwegen, die ich aus Gründen höherrangiger Geheimhaltungsverpflichtungen nicht näher beschreiben könne, zu einer speziellen Abwandlung von Appenzeller Käse gekommen, die nach meiner persönlichen Erfahrung und jener von ein paar anderen Leuten tatsächlich das bewirken könne, was wir von einem Geheimrezept zur Verbesserung des menschlichen Spirits erwarten würden: eine halbe Stunde Seelenfrieden. Und ich hätte den Auftrag, sie, also unseren «Geheimbund», zu fragen, ob sie als unvoreingenommene Testpersonen überprüfen wollten, ob diese Wirkung mehr sei als Einbildung.
Natürlich wollten alle, wenngleich noch eine gewisse Skepsis der Idee gegenüber zu spüren war, ausgerechnet ein Käse könnte die gewünschte Wirkung bringen. Am liebsten hätten sie den Test sofort gemacht, doch ich plädierte dafür, einen würdigen Rahmen für den Test zu schaffen und ihn deshalb auf das nächste gemeinsame Wochenende zu vertagen. Ich wurde noch mit der Gestaltung dieses Rahmens beauftragt, dann zerstreute sich die Gruppe für dieses Mal.
Szene am Bach
Adelina war natürlich schnell klar geworden, dass es sich beim Historiker Hans um das Mordopfer handelte und dass die übrigen fünf Mitglieder des «Geheimbundes» an der Zeremonie am Bach dabei gewesen waren. Was es mit diesem Ort für eine Bewandtnis hatte, erzählte ich ihr jetzt.
Bei der Auswahl des Orts für unseren Test des Appenzeller Secrets hatte ich mich vom Gespräch mit Hans über Beethovens Pastorale inspirieren lassen. In der sechsten Symphonie lautet die Bezeichnung des zweiten Satzes nämlich «Szene am Bach», und ein Bach schien mir ein guter Ort für unser Vorhaben zu sein.
Am vorgesehenen Tag hatte sich, wie von den Wetterfröschen angekündigt, der Himmel aufgeklart, die Sonne strahlte, von Wolken weitgehend unbehelligt, von einem sattblauen Himmel. Die Temperatur war fast sommerlich warm und ohne jeden Hauch von Schwüle. Wir betrachteten das als gutes Omen für unsere geplante kleine Exkursion zum Bach und zogen los.
Dass wir das zu Fuss taten, war Ehrensache. Wohl hätte man sich den Anmarsch bis auf die letzten zehn Minuten sparen können, wenn wir mit dem Auto bis zur nächstmöglichen Stelle gefahren wären, doch die eigenfüssige Annäherung an unseren Ritualplatz erschien uns angemessen spirituell. Abgesehen davon dauerte der ganze Fussmarsch ohnehin nicht länger als eine knappe halbe Stunde.
Den genauen Standort des von mir höchstpersönlich ausgesuchten Platzes am Bach werde ich hier nicht verraten. Ich hatte ihn gewählt, weil er einerseits in erträglicher Distanz von meinem Häuschen lag, andererseits so unbekannt war und abseits der üblichen Routen lag, dass sich die Gefahr, von unbedarften Wanderern gestört zu werden, auf ein minimales Restrisiko beschränkte. Und das soll auch so bleiben.
Als wir jenen Waldrand erreicht hatten, von dem uns ein schmaler Pfad hinunter zum Bach führen würde, wies ich meine Geschwister in Spirit auf die Beerenbüsche hin, die dort üppig wucherten. Wilde Beeren direkt vom Strauch in den Mund zu stecken, fand ich schon immer eine der am höchsten entwickelten Formen der Nahrungsaufnahme. Diesmal hatte sich die freigebige Natur selbst übertroffen, hatte sie doch zugleich reife Himbeeren und Brombeeren im Angebot.
Dem mehr als durchwachsenen Sommer Tribut zollend, gab es zwar nicht viele reife Beeren, und diese wenigen waren eher klein gewachsen, doch es reichte, um die himbeerige und brombeerige Essenz von Geschmack, Duft und Inhaltsstoffen in ausreichenden Mengen in unseren Gaumen und Mägen zu
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