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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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kommt etwas komisch vor, nicht wahr?», fragte er freundlich. «Sagen Sie es mir, mein Freund. Irgendetwas gibt Ihnen Rätsel auf?»
    «Sie haben Recht», bestätigte der andere.
    «Was denn?»
    «Sehen Sie, diese beiden Wunden – hier und hier –» Er zeigte darauf. «Sie sind so tief, dass bei jedem Stich Blutgefäße durchtrennt worden sein müssen – und trotzdem – die Ränder klaffen nicht auseinander. Sie haben nicht geblutet, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre.»
    «Was bedeutet –?»
    «Dass der Mann tot war – schon einige Zeit tot –, als ihm diese Wunden beigebracht wurden. Aber das ist natürlich widersinnig.»
    «Sollte man meinen», sagte Poirot bedächtig. «Es sei denn, unser Mörder hatte das Gefühl, sein Werk nicht ordentlich vollbracht zu haben, und ist noch einmal zurückgekommen, um sicherzugehen; aber das ist vollkommen widersinnig! Noch etwas?»
    «Ja, noch eins.»
    «Und das wäre?»
    «Sehen Sie diese Wunde hier – unter dem rechten Arm – nah bei der rechten Schulter. Hier, nehmen Sie einmal meinen Bleistift. Könnten Sie so zustechen?»
    Poirot hob die Hand.
    «Précisément», sagte er. «Ich verstehe. Mit der rechten Hand wäre das äußerst schwierig – geradezu unmöglich. Man müsste gewissermaßen mit einer Rückhand zustoßen. Wenn aber der Stich mit der linken Hand geführt wurde –»
    «Genau, Monsieur Poirot. Dieser Stich wurde fast bestimmt mit der linken Hand geführt.»
    «So dass unser Mörder ein Linkshänder wäre? Nein, die Sache ist komplizierter, stimmt’s?»
    «Sie sagen es, Monsieur Poirot. Einige andere Stiche wurden ebenso offensichtlich mit der rechten Hand geführt.»
    «Also zwei Personen. Wieder haben wir es mit zwei Personen zu tun», murmelte der Detektiv. Dann fragte er plötzlich:
    «War das elektrische Licht an?»
    «Das ist schwer zu sagen. Der Strom wird nämlich jeden Morgen gegen zehn Uhr vom Schaffner abgestellt.»
    «Die Schalterstellungen werden es uns sagen», meinte Poirot.
    Er besah sich den Schalter der Deckenlampe und der Leselampe. Beide standen auf aus.
    «Eh bien», meinte er nachdenklich. «Als Arbeitshypothese haben wir also einen ersten Mörder und einen zweiten Mörder, wie es beim großen Shakespeare heißen würde. Der erste Mörder hat sein Opfer erstochen, das Abteil verlassen und dabei das Licht ausgeschaltet. Der zweite Mörder kam im Dunkeln, sah nicht, dass seine oder ihre Arbeit bereits getan war, und stach mindestens noch zweimal auf den Toten ein. Que pensez-vous de ç a ?»
    «Großartig», rief der kleine Doktor begeistert.
    Poirots Augen blitzten. «Finden Sie? Freut mich zu hören. Mir selbst kommt es ein bisschen unsinnig vor.»
    «Was kann es denn sonst für eine Erklärung geben?»
    «Das frage ich mich ja auch. Liegt hier ein zufälliges Zusammentreffen vor oder was? Gibt es noch andere Ungereimtheiten, die einen Hinweis darauf bieten, dass zwei Personen im Spiel sind?»
    «Ich glaube, das kann ich bejahen. Wie ich schon sagte, deuten einige der Stiche auf eine Schwäche hin – mangelnde Kraft oder mangelnde Entschlossenheit. Sie wurden halbherzig geführt und sind abgeglitten. Aber der hier – und der –» Er zeigte wieder auf die Stiche. «Sie erforderten große Körperkraft. Sie sind glatt durch den Muskel gedrungen.»
    «Sie meinen, das könne nur ein Mann gewesen sein?»
    «Mit aller Bestimmtheit.»
    «Es könnte nicht doch eine Frau gewesen sein?»
    «Eine sehr athletische junge Frau könnte ihm diese Wunden beigebracht haben, vor allem, wenn sie unter dem Einfluss einer heftigen Gefühlsbewegung stand, aber nach meiner Meinung ist das höchst unwahrscheinlich.»
    Poirot war eine Zeit lang still.
    «Sie verstehen, was ich meine?», fragte der Doktor gespannt.
    «Vollkommen», antwortete Poirot. «Das Dunkel beginnt sich wunderbar aufzuhellen. Der Mörder war ein Mann von großer Körperkraft, er war schwächlich, er war eine Frau, er war Rechtshänder, er war Linkshänder – ah, c ’ est rigolo, tout ç a.»
    Plötzlich ungehalten, sprach er weiter: «Und der Ermordete? Was tut er? Schreit er? Wehrt er sich? Versucht er sich zu verteidigen?»
    Er schob die Hand unters Kissen und holte die Pistole hervor, die Ratchett ihm am Tag zuvor gezeigt hatte.
    «Da, sehen Sie. Voll geladen», sagte er.
    Sie schauten sich um. Ratchetts Tageskleidung hing an den Wandhaken. Auf einem Tischchen, das aus der Abdeckung des Waschbeckens bestand, befanden sich verschiedenerlei Dinge: ein falsches Gebiss in

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