Mord im Orientexpress
denn?»
«Cassetti.»
«Cassetti.» Dr. Constantine legte die Stirn in Falten. «Das erinnert mich an irgendetwas. Liegt ein paar Jahre zurück. Es fällt mir jetzt nicht ein… War das nicht ein Kriminalfall in Amerika?»
«Ganz recht», sagte Poirot. «Ein Kriminalfall in Amerika.»
Darüber hinaus war Poirot nicht sehr mitteilungsbedürftig. Er blickte sich einmal um, ehe er fortfuhr:
«Wir werden uns gleich damit befassen. Vorher sollten wir uns nur noch vergewissern, dass wir hier alles gesehen haben, was es zu sehen gibt.»
Schnell und geübt durchsuchte er noch einmal die Taschen des Toten, fand darin aber nichts von Interesse. Er probierte die Verbindungstür zum Abteil nebenan, aber sie war von der anderen Seite verriegelt.
«Eines verstehe ich nicht», sagte Dr. Constantine. «Wenn der Mörder nicht durchs Fenster entkommen ist, und wenn diese Verbindungstür von der anderen Seite verriegelt war, und wenn die Tür zum Gang nicht nur von innen verschlossen war, sondern auch noch die Kette vorlag, wie hat der Mörder dann das Abteil verlassen?»
«Das ist genau die Frage, die sich das Publikum immer stellt, wenn der an Händen und Füßen gefesselte Mensch in einen Schrank gesperrt wird – und verschwindet.»
«Sie meinen – »
«Ich meine», erklärte Poirot, «dass der Mörder, der uns glauben machen wollte, dass er durchs Fenster entkommen sei, es natürlich so aussehen lassen musste, als hätte er unmöglich die beiden anderen Ausgänge benutzen können. Es ist ein Trick dabei – wie bei dem verschwindenden Menschen im Schrank. Unsere Aufgabe ist es nun, hinter diesen Trick zu kommen.»
Er verriegelte die Verbindungstür auch von dieser Seite.
«Nur für den Fall», sagte er, «dass die vortreffliche Mrs. Hubbard es sich in den Kopf setzen sollte, sich aus erster Hand ein paar Details zu dem Verbrechen zu beschaffen, um sie ihrer Tochter mitteilen zu können.»
Er sah sich noch einmal um.
«So, ich glaube, hier gibt es jetzt nichts mehr zu tun. Gehen wir wieder zu Monsieur Bouc.»
Achtes Kapitel
Der Entführungsfall Armstrong
M onsieur Bouc saß gerade über den Resten eines Omeletts.
«Ich hielt es für das Beste», sagte er, «im Speisewagen schon jetzt das Mittagessen servieren zu lassen. Danach wird er dann geräumt, und Monsieur Poirot wird dort die Fahrgäste vernehmen. Für uns drei habe ich inzwischen schon etwas zu essen hierher bestellt.»
«Ausgezeichnete Idee», sagte Poirot.
Die beiden anderen waren nicht hungrig, und so war das Mahl bald verzehrt. Aber erst beim Kaffee kam Monsieur Bouc auf das Thema zu sprechen, das sie alle beschäftigte.
«Eh bien?», fragte er.
«Eh bien. Ich habe die wahre Identität des Opfers herausbekommen und weiß jetzt, warum es für ihn so wichtig war, Amerika zu verlassen.»
«Wer war er denn?»
«Erinnern Sie sich an die Zeitungsberichte über die Entführung der kleinen Daisy Armstrong? Er ist der Mann, der das Kind ermordet hat – Cassetti.»
«Ja, ich entsinne mich. Furchtbare Geschichte – auch wenn mir die Einzelheiten nicht mehr im Gedächtnis sind.»
«Colonel Armstrong war Engländer – Träger des Victoria-Kreuzes. Er war auch halb Amerikaner, denn seine Mutter war eine Tochter des Wall-Street-Millionärs W. K. Van der Halt. Er war verheiratet mit einer Tochter Linda Ardens, der berühmtesten amerikanischen Tragödin jener Tage. Sie lebten in Amerika und hatten ein Kind – ein Mädchen –, das ihr Ein und Alles war. Als das Kind drei Jahre alt war, wurde es entführt und für seine Rückgabe eine unvorstellbar hohe Summe verlangt. Ich möchte Sie jetzt nicht mit all den folgenden Verwicklungen ermüden und springe gleich zu dem Zeitpunkt weiter, als man nach Zahlung der gewaltigen Summe von zweihunderttausend Dollar die Leiche der Kleinen fand, die mindestens schon zwei Wochen tot war. Die öffentliche Empörung kochte über. Doch es kam noch schlimmer. Mrs. Armstrong, die wieder ein Kind erwartete, erlitt durch den Schock eine Fehlgeburt, an der sie selbst starb. Ihr völlig gebrochener Mann erschoss sich.»
«Mon Dieu, welche Tragödie! Ich erinnere mich jetzt wieder», sagte Monsieur Bouc. «Und es gab dann noch einen Todesfall, wenn ich es richtig im Gedächtnis habe.»
«Ja – ein unglückseliges französisches oder schwedisches Kindermädchen. Die Polizei war überzeugt, dass sie irgendwie über das Verbrechen Bescheid gewusst haben müsse. Sie konnte es abstreiten, soviel sie wollte, man glaubte ihr
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