Mord im Orientexpress
Mr. Ratchetts Tod noch ein Weilchen für sich behalten könnten.»
«Aber sein Diener, Masterman, muss es doch erfahren.»
«Der wird es wohl schon wissen», meinte Poirot trocken. «Wenn ja, dann versuchen Sie ihm beizubringen, dass er den Mund halten soll.»
«Das dürfte nicht weiter schwer sein. Er ist Brite und hält sich, wie er selbst es ausdrückt, gern für sich. Er hat keine hohe Meinung von Amerikanern und gar keine Meinung von allen anderen Nationalitäten.»
«Danke, Mr. MacQueen.»
Der Amerikaner verließ das Abteil.
«Nun?», wollte Monsieur Bouc sofort wissen. «Glauben Sie, was er sagt, der junge Mann?»
«Er wirkt auf mich ehrlich und aufrichtig. Er hat uns keinerlei Sympathie für seinen Arbeitgeber vorgespielt, wie er es mit Sicherheit getan hätte, wenn er in irgendeiner Weise verwickelt wäre. Gewiss, Mr. Ratchett hat ihm nichts davon gesagt, dass er vergebens versucht hat, mich in seine Dienste zu nehmen, aber das halte ich eigentlich noch nicht für einen verdächtigen Umstand. Ich stelle mir vor, dass Mr. Ratchett so einer war, der immer alles für sich behielt, wenn es eben ging.»
«Also erklären Sie schon mindestens eine Person des Verbrechens für unschuldig», meinte Monsieur Bouc gönnerhaft.
Poirot warf ihm einen tadelnden Blick zu.
«Ich? Ich verdächtige alle und jeden bis zur letzten Minute», sagte er. «Trotzdem gebe ich zu, ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser ruhige, umsichtige Mr. MacQueen derart den Kopf verloren und ein gutes Dutzend Mal auf seinen Arbeitgeber eingestochen haben soll. Das entspräche nicht seiner Mentalität – nein, ganz und gar nicht.»
«Nein», meinte Monsieur Bouc bedächtig. «So etwas ist die Tat eines Mannes, den blindwütiger Hass fast um den Verstand gebracht hat – es spricht eher für ein südländisches Temperament. Oder aber es spricht, wie unser guter chef de train so felsenfest überzeugt ist, für eine Frau.»
Siebtes Kapitel
Die Leiche
M it Dr. Constantine im Gefolge begab sich Poirot in den nächsten Wagen und dort zu dem Abteil, das der Ermordete innegehabt hatte. Der Schaffner kam und schloss ihnen mit seinem Hauptschlüssel die Tür auf.
Die beiden Männer traten ein. Poirot wandte sich fragend an seinen Begleiter.
«Was wurde in diesem Abteil alles verändert?»
«Es wurde nichts angerührt. Ich selbst habe mich sehr bemüht, die Leiche bei der Untersuchung nicht zu bewegen.»
Poirot nickte. Dann blickte er sich um.
Das Erste, was seine Sinne wahrnahmen, war die Eiseskälte. Das Fenster war so tief hinuntergeschoben, wie es nur ging, das Rollo hochgezogen.
«Brrr», machte Poirot.
Der andere lächelte verständnisvoll. «Ich wollte es lieber nicht schließen», sagte er.
Poirot nahm das Fenster sorgfältig in Augenschein.
«Sie haben Recht», sagte er. «Niemand hat den Wagen auf diesem Wege verlassen. Das offene Fenster sollte vielleicht zu diesem Schluss verführen, aber der Schnee hat diese Absicht des Mörders durchkreuzt.»
Er beäugte den Fensterrahmen von allen Seiten. Dann nahm er ein Schächtelchen aus seiner Jackentasche und pustete etwas Pulver darauf.
«Keinerlei Fingerabdrücke», sagte er. «Das heißt, der Rahmen wurde abgewischt. Aber gut, wenn welche darauf wären, würden sie uns wenig sagen. Sie würden von Mr. Ratchett oder seinem Diener oder dem Schaffner stammen. Verbrecher begehen solche Fehler heutzutage nicht mehr.
Und da dies so ist», fuhr er vergnügt fort, «können wir das Fenster ebenso gut schließen. Hier ist es ja wie in einem Eiskeller!»
Er ließ seinen Worten die Tat folgen, dann wandte er seine Aufmerksamkeit zum ersten Mal der reglosen Gestalt im Bett zu.
Ratchett lag auf dem Rücken. Seine mit rostroten Flecken bedeckte Schlafanzugjacke war geöffnet und zurückgeschlagen.
«Ich musste mich über die Art der Wunden kundig machen», erklärte der Arzt.
Poirot nickte. Er beugte sich über den Leichnam. Endlich richtete er sich mit einer Grimasse wieder auf.
«Kein schöner Anblick», sagte er. «Jemand muss hier gestanden und ein ums andere Mal zugestochen haben. Wie viele Wunden sind es genau?»
«Ich habe zwölf gezählt. Die eine oder andere ist so klein, dass man sie höchstens als Kratzer bezeichnen kann. Andererseits waren mindestens drei geeignet, jede für sich den Tod herbeizuführen.»
Etwas im Ton des Arztes ließ Poirot aufhorchen. Er sah ihn scharf an. Der kleine Grieche starrte mit verwundertem Stirnrunzeln auf die Leiche hinunter.
«Ihnen
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