Mord im Orientexpress
Adresse darauf.»
Der Italiener schrieb schwungvoll. Dann erhob er sich – sein Lächeln war gewinnend wie eh und je.
«Das ist alles? Sie brauchen mich nicht länger? Einen schönen guten Tag, die Herren. Ich wollte, wir kämen endlich aus diesem Schnee heraus. Ich habe einen Termin in Mailand –» Er schüttelte traurig den Kopf. «Das Geschäft wird mir durch die Lappen gehen.»
Er entfernte sich.
Poirot sah seinen Freund an.
«Er war lange in Amerika», sagte Monsieur Bouc, «und er ist Italiener. Die Italiener sind Messerstecher! Und große Lügner! Ich mag die Italiener nicht.»
«Pa se voit», meinte Poirot lächelnd. «Es könnte ja sein, dass Sie Recht haben, aber ich muss Sie darauf hinweisen, mein Freund, dass wir absolut nichts gegen den Mann in der Hand haben.»
«Und die Mentalität? Sind die Italiener vielleicht keine Messerstecher?»
«Auf jeden Fall», sagte Poirot. «Besonders in der Hitze eines Streits. Aber dies hier – das ist ein Verbrechen anderer Art. Ich habe so einen leisen Verdacht, mein Freund, dass dieses Verbrechen sehr genau geplant und durchgeführt wurde. Es ist von langer Hand vorbereitet. Das ist – wie soll ich es nennen? – kein südländisches Verbrechen. Es verrät ein kühles, findiges, planendes Gehirn – ich denke eher an ein angelsächsisches Gehirn.»
Er nahm die letzten beiden Pässe zur Hand.
«Dann», sagte er, «wollen wir also jetzt Miss Mary Debenham anhören.»
Elftes Kapitel
Das Zeugnis der Mary Debenham
A ls Mary Debenham den Speisewagen betrat, bestätigte sie den Eindruck, den Poirot schon vorher von ihr gewonnen hatte.
Sie trug ein sehr adrettes schwarzes Kostüm mit grauer Bluse, ihre dunklen Haare waren sanft gewellt, und ihr Auftreten war so ruhig und unaufgeregt wie ihre Frisur.
Sie setzte sich Poirot und Monsieur Bouc gegenüber und sah beide fragend an.
«Sie heißen Mary Hermione Debenham und sind sechsundzwanzig Jahre alt?», begann Poirot.
«Ja.»
«Engländerin?»
«Ja.»
«Würden Sie so freundlich sein, Mademoiselle, Ihre ständige Adresse hier auf dieses Blatt zu schreiben?»
Sie kam der Aufforderung nach. Ihre Schrift war klar und gut leserlich.
«Und nun, Mademoiselle: Was können Sie uns über die Angelegenheit von gestern Nacht erzählen?»
«Da habe ich Ihnen leider gar nichts zu erzählen. Ich bin zu Bett gegangen und habe geschlafen.»
«Sind Sie sehr bestürzt darüber, Mademoiselle, dass in diesem Zug ein Verbrechen begangen wurde?»
Die Frage hatte sie eindeutig nicht erwartet. Ihre grauen Augen weiteten sich ein wenig.
«Ich verstehe Sie nicht recht.»
«Ich habe Ihnen doch eine ganz einfache Frage gestellt, Mademoiselle. Aber ich will sie gern wiederholen. Sind Sie sehr bestürzt darüber, dass in diesem Zug ein Verbrechen begangen wurde?»
«Unter diesem Gesichtspunkt habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht. Nein, ich kann nicht sagen, dass es mich in irgendeiner Weise bestürzt.»
«Ein Verbrechen – ist das also für Sie etwas Normales?»
«Es ist natürlich höchst unerquicklich, wenn so etwas passiert», antwortete Miss Debenham ruhig.
«Sie sind sehr angelsächsisch, Mademoiselle. Vous n ’ éprouvez pas d ’ emotion.»
Sie lächelte. «Ich kann Ihnen meine Empfindsamkeit leider nicht durch einen hysterischen Anfall beweisen. Schließlich sterben alle Tage Menschen.»
«Sterben, ja. Aber Mord ist schon etwas seltener.»
«Ja, gewiss.»
«Sie waren mit dem Verstorbenen nicht bekannt?»
«Ich habe ihn gestern zum ersten Mal gesehen, hier, beim Mittagessen.»
«Und welchen Eindruck hatten Sie von ihm?»
«Ich habe ihn kaum zur Kenntnis genommen.»
«Sie hatten nicht den Eindruck, dass er ein böser Mensch war?»
Sie hob die Schultern ein wenig. «Wirklich, ich kann nicht behaupten, dass ich mir darüber Gedanken gemacht hätte.»
Poirot sah sie scharf an.
«Mir scheint, Sie halten wenig von der Art und Weise, wie ich meine Vernehmungen durchführe», meinte er augenzwinkernd. «So würde man das in England nie machen, denken Sie. Dort würde man rein sachlich vorgehen – strikt auf die Fakten bezogen – eine geordnete Sache. Aber ich, Mademoiselle, habe nun einmal meine kleinen Eigenheiten. Ich sehe mir meine Zeugen zuerst an, mache mir ein Bild von ihrem Charakter und formuliere dementsprechend meine Fragen. So habe ich eben erst einen Herrn vernommen, der mir zu allem und jedem seine Ansichten darlegen wollte. In so einem Fall bleibe ich streng bei der Sache. Ich will von
Weitere Kostenlose Bücher