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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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werden?»
    «Es war nicht unnormal, Monsieur. Es kommt oft vor, dass Ihre Durchlaucht nachts meine Aufwartung verlangt. Sie hatte nicht gut geschlafen.»
    «Eh bien. Sie wurden also gerufen und sind aufgestanden. Haben Sie einen Morgenmantel übergeworfen?»
    «Nein, Monsieur. Ich habe schnell ein paar Sachen angezogen. Ich wollte nicht im Morgenmantel zu Ihrer Durchlaucht gehen.»
    «Aber Sie haben doch einen sehr schönen Morgenmantel – scharlachrot, nicht wahr?»
    Sie sah ihn mit großen Augen an. «Dunkelblauer Flanell, Monsieur.»
    «Aha! Fahren Sie fort. War nur ein kleiner Scherz von mir. Sie sind also zu Madame la Princesse gegangen. Und was haben Sie getan, als Sie bei ihr waren?»
    «Ich habe sie zuerst massiert, Monsieur, und ihr dann vorgelesen. Ich bin nicht gut im Vorlesen, aber Ihre Durchlaucht sagt, das ist umso besser, weil sie dabei schneller einschläft. Als sie dann schläfrig wurde, hat sie mich fortgeschickt, Monsieur, und ich habe das Buch zugeklappt und bin wieder in mein Abteil gegangen.»
    «Wissen Sie, um welche Zeit das war?»
    «Nein, Monsieur.»
    «Alors, wie lange waren Sie denn bei Madame l a Princesse?»
    «Eine halbe Stunde vielleicht, Monsieur.»
    «Gut. Fahren Sie fort.»
    «Zuerst habe ich für Ihre Durchlaucht noch eine Decke aus meinem Abteil geholt. Es war sehr kalt, trotz der Heizung. Ich habe die Decke über sie gelegt, und sie hat mir gute Nacht gewünscht. Dann habe ich ihr noch ein Glas Mineralwasser eingegossen und das Licht gelöscht und bin gegangen.»
    «Und weiter?»
    «Nichts weiter, Monsieur. Ich bin in mein Abteil zurückgegangen und habe mich wieder schlafen gelegt.»
    «Und Sie sind auf dem Korridor niemandem begegnet?»
    «Nein, Monsieur.»
    «Sie haben zum Beispiel keine Dame in einem scharlachroten Kimono gesehen, mit Drachen darauf?»
    Ihre sanftmütigen Augen quollen ihm förmlich entgegen.
    «Wirklich nicht, Monsieur. Es war niemand da, außer dem Schaffner. Alle schliefen.»
    «Aber den Schaffner haben Sie gesehen?»
    «Ja, Monsieur.»
    «Was tat er gerade?»
    «Er kam aus einem der Abteile, Monsieur.»
    «Wie?» Monsieur Bouc beugte sich vor. «Aus welchem?»
    Hildegard Schmidt sah ihn wieder furchtsam an, und Poirot warf seinem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu.
    «Natürlich», sagte er. «Der Schaffner wird in der Nacht sehr oft gerufen. Erinnern Sie sich, welches Abteil es war?»
    «Ungefähr in der Mitte des Wagens, Monsieur. Zwei oder drei Türen weiter von Ihrer Durchlaucht.»
    «Ah! Dann sagen Sie uns doch bitte, wo das genau war und was passierte.»
    «Er hat mich fast umgerannt, Monsieur. Das war, als ich mit der Decke aus meinem Abteil wieder zu Ihrer Durchlaucht ging.»
    «Und er kam aus einem Abteil und hat Sie fast umgerannt? In welche Richtung ging er?»
    «Er kam auf mich zu, Monsieur. Er hat sich entschuldigt und ist weiter in Richtung Speisewagen gegangen. Es klingelte irgendwo, aber ich glaube, da ist er nicht hingegangen.» Sie schwieg kurz, dann sagte sie: «Ich verstehe das nicht. Wie kann –?»
    Poirot versuchte sie zu beruhigen.
    «Es geht nur um die Zeiten», sagte er. «Reine Routine. Dieser arme Schaffner – er scheint eine unruhige Nacht gehabt zu haben. Zuerst muss er Sie wecken gehen, dann wird dauernd nach ihm geklingelt.»
    «Es war aber nicht derselbe Schaffner, der mich geweckt hat, Monsieur. Es war ein anderer.»
    «Ah, ein anderer! Hatten Sie ihn schon einmal gesehen?»
    «Nein, Monsieur.»
    «Hm! Würden Sie ihn wohl wieder erkennen?»
    «Ich glaube ja, Monsieur.»
    Poirot flüsterte Monsieur Bouc etwas ins Ohr. Letzterer stand auf und ging zur Tür, um eine Anweisung zu geben.
    Poirot setzte freundlich und ruhig seine Befragung fort.
    «Waren Sie schon einmal in Amerika, Fräulein Schmidt?»
    «Noch nie, Monsieur. Muss ein schönes Land sein.»
    «Sie haben vielleicht schon gehört, wer der Ermordete in Wirklichkeit war – dass er den Tod eines kleinen Kindes auf dem Gewissen hatte.»
    «Ja, das habe ich gehört, Monsieur. Das war abscheulich – niederträchtig. Der liebe Gott dürfte so etwas nicht zulassen. Solche Niedertracht gibt es bei uns in Deutschland nicht.»
    Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihre mütterliche Seele war zutiefst bewegt.
    «Ja, es war ein abscheuliches Verbrechen», sagte Poirot ernst.
    Er zog ein Tüchlein aus feinem Batist aus der Tasche und reichte es ihr.
    «Ist das Ihr Taschentuch, Fräulein Schmidt?»
    Es wurde kurz still, während die Frau sich das Tuch besah. Nach einer Weile

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