Mord im Orientexpress
gar nichts, Monsieur Poirot. Ich möchte wissen, was Sie denken.»
Er sah ihr voll in die Augen.
«Ich denke, Madame, dass Ihre Kraft in Ihrem Willen steckt, nicht in Ihrem Arm.»
Sie blickte hinunter auf ihre dürren, schwarz verhüllten Arme, die in zwei klauenartigen gelben Händen mit beringten Fingern endeten.
«Das ist wahr», sagte sie. «Darin habe ich keine Kraft – gar keine. Ich weiß nicht, ob ich darüber traurig oder froh bin.»
Mit diesen Worten machte sie kehrt und ging in ihr Abteil zurück, wo die Zofe gerade die Koffer wieder packte.
Monsieur Bouc setzte zu einer langen Entschuldigung an, aber die Fürstin fiel ihm ins Wort.
«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Monsieur», sagte sie. «Es wurde ein Mord begangen. Da sind gewisse Maßnahmen zu ergreifen. Weiter gibt es dazu nichts zu sagen.»
«Vous êtes bien aimable, Madame.»
Sie neigte kurz den Kopf, als sie gingen.
Die nächsten beiden Abteiltüren waren zu. Monsieur Bouc blieb davor stehen und kratzte sich am Kopf.
«Diable», sagte er. «Das kann knifflig werden. Die Leute haben Diplomatenpässe. Ihr Gepäck ist immun.»
«Nur bei der Zollkontrolle. Mord ist etwas anderes.»
«Ich weiß. Trotzdem – ich möchte keine Schwierigkeiten bekommen.»
«Machen Sie sich keine Sorgen, mein Freund. Der Graf und die Gräfin werden vernünftig sein. Sehen Sie doch, wie liebenswürdig die Fürstin Dragomiroff es über sich hat ergehen lassen.»
«Sie ist wahrhaft une grande dame. Die beiden sind vom gleichen gesellschaftlichen Rang wie sie, aber der Graf kam mir doch ein wenig widerborstig vor. Er war gar nicht erfreut, als Sie unbedingt seine Frau vernehmen wollten. Und nun werden wir ihn noch mehr reizen. Angenommen, wir – äh – übergehen sie. Schließlich können sie mit der Sache nichts zu tun haben. Warum sollte ich mir unnötigen Ärger zuziehen?»
«Ich bin nicht Ihrer Meinung», sagte Poirot. «Nach meiner Überzeugung wird Graf Andrenyi ein Einsehen haben. Wir sollten es doch wenigstens versuchen.»
Und ehe Monsieur Bouc antworten konnte, klopfte er laut an die Tür von Abteil dreizehn.
Von drinnen rief eine Stimme: «Entrez.»
Der Graf saß in der Ecke bei der Tür und las Zeitung. Die Gräfin hatte sich in die andere Ecke beim Fenster gekuschelt. Sie hatte ein Kissen hinter dem Kopf und schien geschlafen zu haben.
«Pardon, Monsieur le Comte», begann Poirot. «Bitte verzeihen Sie die Störung. Es ist so, dass wir alles Gepäck im Zug durchsuchen wollen. In den meisten Fällen ist das eine bloße Formalität. Aber es muss sein. Monsieur Bouc meint, Sie könnten als Inhaber eines Diplomatenpasses mit Fug und Recht verlangen, von dieser Durchsuchung ausgenommen zu werden.»
Der Graf dachte darüber kurz nach.
«Danke», sagte er dann, «aber ich glaube, ich lege keinen Wert darauf, dass in meinem Fall eine Ausnahme gemacht wird. Es ist mir lieber, wenn unser Gepäck ebenso durchsucht wird wie das der übrigen Reisenden.»
Er wandte sich an seine Frau.
«Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, Elena?»
«Ganz und gar nicht», antwortete die Gräfin ohne das mindeste Zögern.
Es folgte eine rasche und ziemlich oberflächliche Durchsuchung. Es schien, als wollte Poirot eine gewisse Verlegenheit überspielen, indem er scheinbar sinnlose Bemerkungen wie die folgende machte:
«Dieses Etikett auf Ihrem Koffer ist ja ganz feucht, Madame.» Dabei nahm er einen kleinen Koffer aus blauem Saffianleder mit Initialen und Krönchen aus dem Gepäcknetz herunter.
Die Gräfin antwortete auf diese Bemerkung nicht. Überhaupt schien der ganze Vorgang sie zu langweilen, denn sie blieb in ihre Ecke gekuschelt und blickte verträumt aus dem Fenster, während die Männer im Nachbarabteil ihr Gepäck durchsuchten.
Zuletzt öffnete Poirot das Schränkchen über dem Waschbecken und überflog rasch den Inhalt: Schwamm, Gesichtscreme, Puder und ein Fläschchen mit der Aufschrift «Trional».
Unter wechselseitigen Artigkeiten zogen die Detektive sich zurück.
Es folgten Mrs. Hubbards Abteil, das des Toten und Poirots eigenes.
So kamen sie zu den Abteilen der zweiten Klasse. Das erste mit den Betten Nummer zehn und elf belegten Mary Debenham, die in einem Buch las, und Greta Ohlsson, die in tiefem Schlaf gelegen hatte und bei ihrem Eintreten aufschreckte.
Poirot wiederholte sein Sprüchlein. Die Schwedin schien aufgeregt, Mary Debenham war die Ruhe selbst.
Poirot wandte sich an die Schwedin.
«Wenn Sie gestatten, Mademoiselle,
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