Mord im Orientexpress
ist aber auch zu schrecklich –»
Mrs. Hubbard machte Anstalten, in Tränen auszubrechen.
Poirot, der schon etwas unruhig geworden war, ergriff die Gelegenheit.
«Sie haben einen Schock erlitten, Madame. Wir werden den Speisewagenkellner bitten, Ihnen etwas Tee und ein paar Stückchen Zwieback zu bringen.»
«Ich weiß nicht, ob ich so scharf auf Tee bin», sagte Mrs. Hubbard unter Tränen. «Das ist doch eher eine englische Sitte.»
«Dann Kaffee, Madame. Sie brauchen etwas zur Anregung.»
«Dieser Kognak hat mir so ein komisches Gefühl im Kopf gemacht. Ich glaube, ich möchte einen Kaffee.»
«Ausgezeichnet. Sie müssen Ihre Kräfte wiederbeleben.»
«Oje, was für ein komischer Ausdruck.»
«Aber zuvor, Madame, noch eine Kleinigkeit – nur Routine. Sie gestatten, dass ich Ihr Gepäck durchsuche?»
«Wozu denn das?»
«Wir werden demnächst das Gepäck aller Reisenden durchsuchen. Ich erinnere Sie ungern an ein unangenehmes Erlebnis, aber – denken Sie an Ihren Waschzeugbeutel.»
«Erbarmen! Ja, vielleicht ist es besser so. Noch mehr Überraschungen dieser Art würde ich nicht aushalten.»
Die Durchsuchung war schnell erledigt. Mrs. Hubbard reiste nur mit dem Notwendigsten – Hutschachtel, billiger Koffer und wohlgefüllte Reisetasche. Der Inhalt aller drei Gepäckstücke war nicht weiter ungewöhnlich, und die Sache wäre in ein paar Minuten erledigt gewesen, hätte Mrs. Hubbard sie nicht dadurch verzögert, dass sie gebührende Aufmerksamkeit für ihre Fotos einforderte – «meine Tochter» nebst zwei ziemlich hässlichen Kindern – «die Kinder meiner Tochter. Sind sie nicht süß?»
Fünfzehntes Kapitel
Das Reisegepäck
N achdem Poirot sich noch einiger höflicher Unaufrichtigkeiten entledigt und Mrs. Hubbard versprochen hatte, ihr einen Kaffee bringen zu lassen, konnte er endlich mit seinen beiden Freunden das Weite suchen.
«Also, wir haben einen Anfang gemacht und eine Niete gezogen», bemerkte Monsieur Bouc. «Wen sollen wir uns nun als Nächstes vornehmen?»
«Ich glaube, es wäre am einfachsten, von Abteil zu Abteil zu gehen. Das heißt, wir beginnen mit Nummer sechzehn – dem liebenswürdigen Mr. Hardman.»
Mr. Hardman, der gerade eine Zigarre rauchte, hieß sie freundlich willkommen.
«Treten Sie ein, meine Herren – das heißt, soweit das menschenmöglich ist. Für eine Party ist es hier ein bisschen eng.»
Monsieur Bouc erklärte den Zweck ihres Besuchs, und der stämmige Detektiv nickte verstehend.
«Das geht klar. Ehrlich gesagt, ich hatte mich schon gewundert, dass Sie darauf nicht früher gekommen sind. Hier sind die Schlüssel, meine Herren, und wenn Sie auch meine Taschen durchsuchen wollen, bitte sehr. Soll ich die Koffer für Sie herunternehmen?»
«Das macht der Schaffner. Michel!»
Mr. Hardmans zwei Koffer waren schnell durchsucht und ihr Inhalt für harmlos befunden. Sie enthielten höchstens einen ungebührlich großen Vorrat an alkoholischen Getränken. Mr. Hardman zwinkerte ihnen zu.
«Kommt nicht oft vor, dass sie einem an den Grenzen das Gepäck durchsuchen – vorausgesetzt, man freundet sich mit dem Schaffner an. Ich habe gleich zu Anfang einen Packen türkische Banknoten herausgerückt, und bisher hat es keinen Ärger gegeben.»
«Und in Paris?»
Mr. Hardman zwinkerte wieder.
«Bis wir in Paris sind», sagte er, «werden die schäbigen Reste sich in einer Flasche mit der Aufschrift ‹Haarwasser› befinden.»
«Ich sehe, Sie sind kein Freund der Prohibition, Mr. Hardman», stellte Monsieur Bouc mit einem Lächeln fest.
«Hm», machte Mr. Hardman, «ich kann nicht behaupten, dass die Prohibition mich je groß gekümmert hätte.»
«Ja ja, die Flüsterkneipen», sagte Monsieur Bouc. Er sprach das Wort mit Andacht aus. «Ihr Amerikaner habt so ulkige Ausdrücke.»
«Ich für meinen Teil würde sehr gern nach Amerika gehen», behauptete Poirot.
«Da drüben würden Sie ein paar fortschrittliche Methoden kennen lernen», meinte Mr. Hardman. «Europa muss aufwachen. Es liegt halb im Schlaf.»
«Es stimmt, dass Amerika das Land des Fortschritts ist», pflichtete Poirot ihm bei. «Es gibt so vieles, was ich an Amerika bewundere. Nur – vielleicht bin ich ja altmodisch –, aber ich finde, dass die amerikanischen Frauen nicht so charmant sind wie meine Landsmänninnen. Die Französin oder Belgierin – kokett und charmant. Ich glaube, da kommt keine andere mit.»
Hardman drehte sich zum Fenster um und blickte ein Weilchen in den Schnee
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