Mord im Orientexpress
Koffer nicht mehr aufgemacht. Wirklich nicht, nein, wirklich, das ist die Wahrheit.»
Sie blickte flehend von einem zum anderen.
Poirot fasste sie sanft am Arm und beruhigte sie.
«Es ist ja alles gut, wir glauben Ihnen. Regen Sie sich nicht auf. Dass Sie die Uniform da nicht hineingetan haben, davon bin ich so fest überzeugt wie von Ihren Qualitäten als Köchin. Nicht wahr, Sie sind doch eine gute Köchin?»
Die Frau musste bei aller Aufregung lächeln.
«Ja, schon, das haben bisher alle meine gnädigen Frauen gesagt. Ich –»
Sie hielt mit offenem Mund inne und setzte wieder ein verängstigtes Gesicht auf.
«Nicht doch», sagte Poirot. «Ich versichere Ihnen, dass alles seine Ordnung hat. Ich sage Ihnen, wie das zugegangen ist. Dieser Mann, den Sie in der Uniform eines Schlafwagenschaffners gesehen haben, kam aus dem Abteil des Toten. Er stieß mit Ihnen zusammen. Das war Pech für ihn. Er hatte gehofft, dass ihn niemand sehen würde. Was sollte er nun machen? Er musste die Uniform loswerden. Sie war jetzt kein Schutz mehr für ihn, sondern eine Gefahr.»
Sein Blick ging zu Monsieur Bouc und Dr. Constantine, die beide aufmerksam zuhörten.
«Sehen Sie, es schneit. Der Schnee durchkreuzt seine Pläne. Wo kann er nun diese Uniform verstecken? Alle Abteile sind belegt. Aber halt, da kommt er an einer offenen Tür vorbei, und in dem Abteil ist niemand. Es muss das Abteil der Frau sein, mit der er vorhin fast zusammengestoßen ist. Er huscht schnell hinein, zieht die Uniform aus und stopft sie in den Koffer, der im Gepäcknetz liegt. Bis sie da entdeckt wird, kann eine Weile vergehen.»
«Und dann?», fragte Monsieur Bouc.
«Darüber werden wir uns unterhalten müssen», sagte Poirot mit einem warnenden Blick.
Er hob die Uniformjacke hoch. Ein Knopf, der dritte von oben, fehlte. Poirot schob eine Hand in die Tasche und brachte einen Hauptschlüssel zum Vorschein, wie ihn die Schaffner hatten, damit sie jedes Abteil aufschließen konnten.
«Das erklärt, wie unser Mann durch verschlossene Türen kam», stellte Monsieur Bouc fest. «Ihre Fragen an Mrs. Hubbard waren überflüssig. Verschlossen oder nicht, der Mann kam ohne weiteres durch die Verbindungstür. Ich meine, wenn schon die Uniform, warum dann nicht auch gleich der dazugehörige Schlüssel?»
«Ganz recht, warum nicht?», bestätigte Poirot.
«Eigentlich hätten wir das wissen müssen. Sie erinnern sich, dass Michel gesagt hat, die Tür vom Gang in Mrs. Hubbards Abteil sei verschlossen gewesen, als er hinging, weil sie nach ihm geklingelt hatte.»
«So ist es, Monsieur», sagte der Schaffner. «Darum dachte ich ja, die Dame müsse geträumt haben.»
«Aber jetzt ist es ganz einfach», fuhr Monsieur Bouc fort. «Sicher hatte er die Verbindungstür ebenfalls wieder abschließen wollen, aber da hat er vielleicht vom Bett her eine Bewegung gehört, die ihn erschreckte.»
«Jetzt müssen wir nur noch den roten Kimono finden», sagte Poirot.
«Richtig. Und die beiden letzten Abteile sind von Männern belegt.»
«Wir werden sie trotzdem durchsuchen.»
«O ja, gewiss! Außerdem weiß ich noch gut, was Sie gesagt haben.»
Hector MacQueen willigte ohne Umstände in die Durchsuchung ein.
«Es ist mir sogar sehr lieb», meinte er mit zerknirschtem Lächeln. «Ich habe das Gefühl, dass ich in diesem Zug der Hauptverdächtige bin. Sie brauchen nur noch ein Testament zu finden, in dem mir der Alte sein ganzes Geld vermacht, schon bin ich geliefert.»
Monsieur Bouc beäugte ihn argwöhnisch.
«War nur ein Scherz von mir», versicherte MacQueen rasch. «Er hätte mir in Wirklichkeit nie einen roten Heller vermacht. Ich war ihm nur nützlich – wegen der Sprachen und so. Man ist einfach aufgeschmissen, wenn man nichts anderes als sein liebes Amerikanisch spricht. Ich bin ja auch kein Sprachgenie, aber ich beherrsche schon ein paar Brocken Französisch und Deutsch und Italienisch, um einkaufen oder ein Hotelzimmer bestellen zu können.»
Seine Stimme war etwas lauter als gewöhnlich. Es schien, als wäre ihm wegen der Durchsuchung, obwohl er ihr so bereitwillig zugestimmt hatte, doch ein wenig mulmig.
Poirot kam wieder aus dem Abteil. «Nichts», sagte er. «Nicht einmal ein belastendes Testament.»
MacQueen seufzte.
«Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen», meinte er scherzhaft.
Sie gingen weiter ins letzte Abteil. Im Gepäck des beleibten Italieners und des Dieners fand sich nichts.
Die drei Männer standen am Ende des Wagens und sahen
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