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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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wissen, dass man Freunde haben kann, die einen in London erwarten, und dass ein Tag Verspätung manche Ungelegenheit bereiten kann.»
    «Ach, ist das so? Sie werden in London von Freunden erwartet? Und denen möchten Sie keine Ungelegenheiten bereiten?»
    «Natürlich.»
    «Trotzdem – es ist merkwürdig –»
    «Was ist merkwürdig?»
    «In diesem Zug hier – wir haben schon wieder Verspätung. Und diesmal ist die Verspätung schlimmer, denn Sie haben nicht einmal die Möglichkeit, Ihren Freunden ein Telegramm zu schicken, keine Gelegenheit zu einem… helfen Sie mir – wie heißt service interurbain auf Englisch?»
    «Long-distance call – meinen Sie das? Ein Ferngespräch?»
    «Richtig.»
    Mary Debenham musste trotz allem lächeln. «Ja», sagte sie, «es ist wirklich über alle Maßen ärgerlich, niemanden telegrafisch oder telefonisch benachrichtigen zu können.»
    «Und doch verhalten Sie sich diesmal völlig anders, Mademoiselle. Sie lassen sich keinerlei Ungeduld anmerken. Sie sind ganz ruhig und tragen es mit philosophischer Gelassenheit.»
    Mary Debenham errötete und nagte an ihrer Lippe. Ihr überhebliches Lächeln war verschwunden.
    «Sie antworten nicht, Mademoiselle?»
    «Entschuldigung. Ich habe nicht mitbekommen, dass es etwas zu beantworten gab.»
    «Eine Erklärung für Ihr verändertes Verhalten, Mademoiselle.»
    «Finden Sie nicht, dass Sie viel Getue um nichts machen, Monsieur Poirot?»
    Poirot entschuldigte sich mit einer Geste.
    «Vielleicht ist das ja bei uns Detektiven eine Berufskrankheit. Wir erwarten immer, dass jedes Verhalten auf einen bestimmten Grund zurückzuführen ist, und vergessen, dass ein Mensch einfach einmal anderer Stimmung sein kann.»
    Mary Debenham sagte nichts darauf.
    «Sie kennen Colonel Arbuthnot gut, Mademoiselle?»
    Er hatte den Eindruck, dass sie bei dem Themenwechsel erleichtert aufatmete.
    «Ich bin ihm auf dieser Reise zum ersten Mal begegnet.»
    «Haben Sie einen Grund, zu vermuten, dass er diesen Ratchett vielleicht gekannt hat?»
    Sie schüttelte entschieden den Kopf. «Ich weiß, dass er ihn nicht kannte.»
    «Was macht Sie so sicher?»
    «Seine Art, darüber zu reden.»
    «Trotzdem, Mademoiselle, haben wir im Abteil des Toten einen Pfeifenreiniger auf dem Fußboden gefunden. Und Colonel Arbuthnot ist der einzige Mann im Zug, der Pfeife raucht.»
    Er beobachtete sie scharf, aber sie verriet weder Überraschung noch Erschütterung, sondern sagte nur:
    «Unsinn. Das ist doch völlig absurd. Colonel Arbuthnot wäre der letzte Mensch auf der Welt, der sich in ein Verbrechen hineinziehen lassen würde – schon gar nicht in ein derart theatralisches Verbrechen.»
    Das entsprach so sehr Poirots eigenem Eindruck, dass er ihr um ein Haar zugestimmt hätte. Stattdessen sagte er:
    «Ich muss Sie daran erinnern, dass Sie ihn gar nicht sehr gut kennen, Mademoiselle.»
    Sie zuckte die Achseln.
    «Ich kenne den Typ zur Genüge.»
    Er sagte betont freundlich: «Sie weigern sich noch immer, mir die Bedeutung dieser Worte zu erklären – ‹Erst wenn wir das hinter uns haben›?»
    «Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen», antwortete sie kühl.
    «Macht nichts», sagte Hercule Poirot. «Ich werde es schon herausbekommen.»
    Er verließ mit einer Verbeugung das Abteil und machte die Tür hinter sich zu.
    «War das wohl klug, mein Freund?», fragte Monsieur Bouc. «Jetzt haben Sie die Dame gewarnt – und über sie auch gleich den Obersten.»
    «Mon ami, wenn Sie ein Karnickel fangen wollen, schicken Sie ein Frettchen in den Bau, und wenn das Karnickel darin ist, kommt es heraus. Nichts anderes habe ich getan.»
    Sie gingen ins Abteil der Zofe.
    Hildegard Schmidt erwartete sie schon. Ihre Miene war respektvoll, verriet aber keine Regung.
    Poirot warf einen raschen Blick auf den Inhalt des kleinen Köfferchens auf der Sitzbank. Dann bedeutete er dem Schaffner, den größeren Koffer aus dem Gepäcknetz zu nehmen.
    «Den Schlüssel», sagte er.
    «Er ist nicht verschlossen, Monsieur.»
    Poirot öffnete die Schnallen und klappte den Deckel hoch.
    «Ah!», sagte er, an Monsieur Bouc gewandt. «Erinnern Sie sich, was ich gesagt habe? Sehen Sie doch einmal her.»
    Im Koffer lag – ganz obenauf – die hastig zusammengerollte braune Uniform eines Schlafwagenschaffners.
    Mit der stoischen Ruhe der Deutschen war es schlagartig vorbei.
    «O Gott, o Gott!», rief sie. «Die gehört mir nicht. Ich habe sie da nicht hineingetan. Seit wir in Istanbul abgefahren sind, habe ich diesen

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